Der Klient
weil Standesethik nun einmal Standesethik war und weil es vermutlich zugleich seine letzte Zahlung sein würde. Und er war stolz auf sich, weil er einen Anwalt engagierte. Sie würde ihm das Geld irgendwie wieder zukommen lassen.
Sie legte den Schein auf den Tisch und sagte: »Okay, jetzt bin ich der Anwalt, und du bist der Klient. Und nun laß mich deine Geschichte hören.«
Er griff abermals in seine Tasche und zog den zusammengefalteten Ausschnitt aus der Zeitung heraus, die Greenway ihnen dagelassen hatte. Er reichte ihn ihr. »Haben Sie das schon gesehen?« fragte er. »Es stand in der heutigen Morgenzeitung.« Seine Hand zitterte, und das Papier bebte.
»Hast du Angst, Mark?«
»Ein bißchen.«
»Versuch, dich zu entspannen, okay?«
»Okay. Ich werde es versuchen. Haben Sie das schon gesehen?«
»Nein, ich bin noch nicht zum Zeitunglesen gekommen.« Sie nahm den Ausschnitt und las. Mark beobachtete ihre Augen ganz genau.
»Okay«, sagte sie, als sie fertig war.
»Da steht, die Leiche wäre von zwei Jungen gefunden worden. Das waren ich und Ricky.«
»Nun, ich bin sicher, das war furchtbar, aber es ist kein Verbrechen, eine Leiche zu finden.«
»Gut. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende.« Ihr Lächeln war verschwunden. Der Stift war bereit. »Und die möchte ich jetzt hören.«
Mark atmete tief und hastig. Die vier Doughnuts rumorten in seinem Magen. Er hatte Angst, aber er wußte auch, daß er sich viel besser fühlen würde, wenn es vorbei war. Er ließ sich in den Sessel sinken, holte tief Luft und schaute auf den Fußboden. Er fing an mit seinem Rauchen, und wie Ricky ihn dabei erwischt hatte und sie zusammen in den Wald gegangen waren.
Dann der Wagen, der Gartenschlauch, der dicke Mann, der, wie sich herausstellte, Jerome Clifford war. Er sprach langsam, weil er sich an alles erinnern wollte und weil er wollte, daß seine neue Anwältin alles mitschrieb.
Nach einer Viertelstunde versuchte Clint zu unterbrechen, aber Reggie verscheuchte ihn mit einem Stirnrunzeln. Er machte schnell die Tür wieder zu und verschwand.
Der erste Bericht dauerte zwanzig Minuten. Reggie unterbrach ihn nur selten. Es gab Lücken und Löcher, die nicht Marks Schuld waren, sondern lediglich Schwachstellen, die sie im zweiten Durchlauf ausräumte, der weitere zwanzig Minuten dauerte. Sie unterbrachen für Kaffee und Eiswasser, alles von Clint herbeigeschafft, und Reggie verlegte das Gespräch an ihren Schreibtisch, wo sie ihre Aufzeichnungen ausbreitete und sich auf den dritten Durchlauf dieser bemerkenswerten Geschichte vorbereitete. Sie füllte einen Notizblock und fing einen zweiten an. Ihr Lächeln war längst verschwunden. An die Stelle des freundlichen, herablassenden Geplauders der Großmutter mit ihrem Enkel waren gezielte Fragen getreten, die jedes Detail klären wollten.
Die einzigen Details, die Mark nicht preisgab, waren diejenigen, die sich auf das Versteck der Leiche von Senator Boyd Boyette bezogen – also alles, was Romey über die Leiche gesagt hatte. Während das geheime und vertrauliche Gespräch seinen Lauf nahm, wurde Reggie immer klarer, daß Mark wußte, wo die Leiche angeblich vergraben war, und sie wich dieser Information geschickt und besorgt aus. Vielleicht würde sie ihn danach fragen, vielleicht auch nicht. Aber es würde das letzte sein, worüber sie redeten.
Eine Stunde, nachdem sie angefangen hatten, machte sie eine Pause und las noch zweimal den Zeitungsartikel. Dann ein weiteres Mal. Es schien zu passen. Er hatte zu viele Einzelheiten geliefert, um zu lügen. Dies war keine Geschichte, die eine blühende Phantasie sich ausdenken konnte. Und der arme Junge hatte eine Heidenangst.
Clint unterbrach abermals um halb zwölf, um Reggie mitzuteilen, daß ihr nächster Mandant bereits seit einer Stunde wartete. Wegschicken, sagte Reggie, ohne von ihren Notizen aufzuschauen, und Clint war verschwunden. Während sie las, wanderte Mark im Büro herum. Er stand am Fenster und beobachtete den Verkehr auf der Third Street. Dann kehrte er zu seinem Sessel zurück und wartete.
Seine Anwältin war zutiefst beunruhigt, und sie tat ihm fast leid. All diese Namen und Gesichter im Branchenbuch, und er mußte diese Bombe ausgerechnet auf Reggie Love abwerfen.
»Wovor hast du Angst, Mark?« fragte sie und rieb sich die Augen.
»Vor einer Menge Dinge. Ich habe die Polizei angelogen, und ich glaube, sie weiß, daß ich lüge. Das macht mir angst. Mein kleiner Bruder liegt im Koma, meinetwegen. Es
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