Der Knochenbrecher
vermutlich als einer der Hauptlagerräume gedient. An zwei Wänden standen Holzregale, die bis zur Decke reichten. Eine groÃe Tischlerbank nahm die Mitte des Raums ein. Wie Brindle gesagt hatte, war sie durch Holzblöcke um etwa dreiÃig Zentimeter erhöht worden. Es lag so viel Schutt und Abfall herum, dass es Wochen dauern würde, bis die Kriminaltechnik alles gesichtet hatte, und wahrscheinlich Monate, bis sämtliche Tests abgeschlossen waren. Genau wie an den anderen zwei Leichenfundorten fanden sie auch hier dieselbe Botschaft: ES IST IN DIR DRIN . Und wie in der leerstehenden Fleischerei war sie mit Sprühfarbe an die Decke geschrieben. Falls es drauÃen vor der Halle Reifenspuren in der weichen Erde gegeben hatte, waren sie durch den Regen weggewaschen worden.
Der Obdachlose, der die Leiche gefunden hatte, war Ende sechzig und erschreckend mager. Er hatte einen langen FuÃmarsch auf sich genommen, um für die Nacht ein Dach über dem Kopf zu haben und dem Regen zu entkommen, den er bereits abends in der Luft gerochen hatte. Er hatte in der alten Meisterei niemanden gesehen, nur die Tote, die nackt und mit zugenähtem Mund wie eine Puppe am Boden gelegen hatte. Obwohl er sich ihr nicht genähert hatte, zitterte er immer noch am ganzen Körper, als Hunter endlich Zeit fand, ihn zu befragen.
Es war exakt sieben Tage her, seit sie Laura Mitchells Leiche gefunden hatten. Kelly Jensens Leiche war drei Tage Âspäter aufgetaucht, und nun hatten sie ein drittes, noch Âunbekanntes Opfer. Wenn man Dr. Winston und den jungen Sektionsassistenten mitzählte, die bei der Explosion in der Rechtsmedizin ums Leben gekommen waren, machte das fünf Tote innerhalb einer Woche. Die Ermittlungen traten auf der Stelle, und der Killer mordete ungehindert weiter.
In der Küche goss Hunter sich ein Glas Wasser ein und trank es in groÃen Schlucken, als müsste er in seinem Innern ein Feuer löschen. Er schwitzte wie nach einem Dauerlauf. Er griff nach seinem Handy und wählte die Nummer von Whitney Myers, bevor er ans Wohnzimmerfenster trat. Zehn Minuten zuvor hatte es endlich aufgehört zu regnen. Der Himmel war schwarz und trübe. Kein einziger Stern war zu sehen.
»Hallo �«, meldete sich Myers nach dem ersten Klingeln.
»Sie ist es nicht.« Seine Stimme war schwer. »Es ist nicht Katia.«
»Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher.«
Eine spannungsgeladene Pause.
»Wissen Sie denn, wer es ist?«, fragte Myers als Nächstes. »Steht sie auf der Vermisstenliste?«
»Nein, tut sie nicht, aber sie kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Bekannt inwiefern?«
»Ich glaube, ich habe sie schon mal gesehen, mir fällt bloà nicht ein, wo.«
»Im Zusammenhang mit Ihrer Arbeit?«
»Ich glaube, nicht.«
»Im Gerichtssaal? Als Zeugin oder Opfer?«
»Nein, irgendwo anders.«
»In einer Bar vielleicht?«
»Ich weià es nicht.« Hunter fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Seine Fingerspitzen verweilten einen Augenblick lang im Nacken und fuhren wie aus alter Gewohnheit die hässliche Narbe nach. »Ich habe nicht das Gefühl, dass ich ihr schon mal begegnet bin. Ich glaube, ich habe bloà ein Bild von ihr gesehen. Vielleicht in einer Zeitschrift oder in der Werbung â¦Â«
»Ist sie berühmt?«
»Keine Ahnung. Vielleicht irre ich mich auch. Ich zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf darüber, aber es fällt mir einfach nicht ein, und ich bin todmüde.«
Myers schwieg.
Hunter verlieà seinen Platz am Fenster und begann, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen.
»Wenn Sie mir ein Foto von ihr mailen, kann ich Ihnen vielleicht helfen«, bot Myers an.
»Auf den Tatortfotos wird sie niemand erkennen. Sie ist seit mehr als zwölf Stunden tot. Der Killer könnte sie gestern abgeladen haben oder sogar vorgestern. Es war pures Glück, dass ein Obdachloser sich das Gebäude für die Nacht als Schlafplatz ausgesucht hat, sonst wäre sie unter Umständen schon vollständig verwest gewesen, bis wir sie gefunden hätten.« Hunter blieb vor seinem Bücherregal stehen und überflog gedankenverloren die Titel. Am fünften Buch in der obersten Reihe blieb sein Blick hängen. »Verdammt!«
»Was? Was ist denn?«
Hunter strich mit dem Finger über den Buchrücken.
»Jetzt weià ich, wo ich sie schon mal gesehen habe.«
79
Hunter
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