Der Knochenbrecher
Hunter parkte seinen Wagen und stieg aus.
Eine Frau Mitte fünfzig öffnete ihm. Sie wirkte sehr elegant mit ihren langen Haaren, die sie adrett zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, ihrem bezaubernden Lächeln und einer Haut, für die viele Frauen, die halb so alt waren wie sie, einen Mord begangen hätten. Sie stellte sich als Denise Mitchell vor und geleitete Hunter in ein Arbeitszimmer voller Kunst, Antiquitäten und in Leder gebundener Bücher. Vor einer hohen Anrichte aus Mahagoni mit zahlreichen gerahmten Fotos darauf stand ein Mann. Er war korpulent â ein Donut mehr, und man hätte ihn als fett bezeichnen müssen â und gut fünfzehn Zentimeter kleiner als Hunter. Er hatte volles, aber zerzaustes graues Haar und einen dazu passenden Schnurrbart.
»Sie müssen der Detective sein, mit dem ich eben telefoniert habe«, sagte er und streckte Hunter die Hand hin. »Ich bin Roy Mitchell.«
Der Griff seiner Hand war genauso routiniert wie sein Lächeln: fest genug, um Charakterstärke zu demonstrieren, aber zugleich sanft genug, um sein Gegenüber nicht einzuschüchtern. Hunter zeigte ihm seine Marke, und Roy Mitchell versteifte sich.
»O Gott.«
Er hatte die Worte ganz leise hervorgestoÃen, aber doch laut genug, dass seine Frau sie gehört hatte. »Was ist denn?«, fragte sie und trat mit fragendem Blick auf die beiden Männer zu.
»Könntest du uns vielleicht für eine Minute allein lassen, Liebling?«, fragte Roy, der vergeblich versuchte, seine Angst zu verbergen.
»Nein, das kann ich nicht«, sagte Denise, die ihren Blick nun auf Hunter richtete. »Ich will wissen, was los ist. Was wissen Sie über meine Tochter?«
»Denise, bitte.«
»Ich rühre mich nicht vom Fleck, Roy.« Ihr Blick lieà Hunter keine Sekunde lang los. »Haben Sie meine Tochter gefunden? Geht es ihr gut?«
Roy Mitchell wandte den Kopf ab.
»Was ist los, Roy? Warum machst du so ein Gesicht?«
Keine Antwort.
»Jetzt sag doch irgendjemand was!« Ihre Stimme geriet ins Taumeln.
»Ich bin nicht von der Vermisstenstelle, Mrs Mitchell«, sagte Hunter schlieÃlich und zeigte ihr erneut seine Marke. Diesmal sah sie genauer hin als zuvor an der Tür.
»O mein Gott, Sie sind vom Morddezernat?« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Tränen traten ihr in die Augen.
»Es besteht die Möglichkeit, dass ich zu Unrecht hier bin«, sagte Hunter mit ernster, aber beruhigender Stimme.
»Was?« Denises Hände begannen zu zittern.
»Vielleicht sollten wir uns besser hinsetzen.« Hunter deutete auf ein Chesterfield-Ledersofa, neben dem eine mannshohe viktorianische Stehlampe stand.
Die Mitchells setzten sich auf das Sofa, und Hunter nahm auf einem der Sessel gegenüber Platz.
»Wir bemühen uns gerade, eine Frau zu identifizieren, die gewisse Ãhnlichkeit mit Ihrer Tochter hat«, erklärte er. »Lauras Name ist einer von vieren, die in Frage kommen.«
»In Frage kommen ⦠als Mordopfer?«, fragte Roy und legte seiner Frau eine Hand aufs Knie.
»Leider ja.«
Denise begann zu schluchzen.
Roy holte tief Luft. »Ich habe dem anderen Detective ein ganz neues Foto von Laura gegeben. Haben Sie das bekommen?«
Hunter nickte.
»Und trotzdem wissen Sie nicht, ob Ihr unidentifiziertes Mordopfer Laura ist oder nicht?«, fragte Denise, der Mascara über die Wangen lief. »Wie kann das sein?«
Roy schloss eine Sekunde lang die Augen, und eine einzelne Träne rollte an seiner Nase entlang. Hunter sah ihm an, dass er bereits den einzig logischen Schluss gezogen hatte: dass besagtes Mordopfer höchstwahrscheinlich nicht zu erkennen war. »Dann sind Sie sicher gekommen, weil Sie von uns eine Blutprobe für einen DNA -Test haben wollen?«, sagte er.
Wie es schien, war Roy Mitchell besser mit der PolizeiÂarbeit vertraut als die meisten Menschen. Seit der Einführung von DNA -Analysen konnte man in einer Situation wie dieser zunächst Proben nehmen und sie mit denen des Opfers vergleichen, so dass man keine Unbeteiligten dem Schock und der zutiefst traumatisierenden Erfahrung aussetzen musste, sich das Foto einer grausam entstellten Leiche anzusehen.
Hunter schüttelte den Kopf. »Leider wird uns ein DNA -Test in diesem Fall nicht weiterhelfen.«
Einen Moment lang schien es so, als wäre die Luft im Raum knapp geworden. »Haben Sie ein
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