Der Knochendieb
Er griff nach seinem Telefon und wählte Thomlinsons Anschluss.
»Cedric, rufen Sie bei den Tiernans an und vereinbaren Sie, dass Moira abgeholt und hierhergebracht wird. Ich habe ein paar dringende technische Fragen an die junge Lady.«
»Wird sofort erledigt.«
Unterdessen saß Pierce in einem anderen Teil der Stadt ungeduldig hinter dem Steuer seines Vans. Er reckte sich und kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. Warten zählte nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Er dachte an die Ereignisse des Tages zurück. Die Belagerung des Spielzeuggeschäfts. Das endlose Warten. Die Ankunft des jungen Mädchens und seine Verfolgung des zivilen Polizeifahrzeugs bis zu ihrem Zuhause, vor dem er nun saß. Es war eine ruhige, von Bäumen gesäumte Straße, und sein Van fiel dort, hinter dem VW Käfer, wo er nun stand, nicht weiter auf.
Cedric nahm sich einen Schlüsselbund von der Stecktafel, trug im Dienstbuch ein, wann er das Polizeirevier verlassen hatte, und ging zur Hintertür hinaus. Auf dem Parkplatz sah er sich nach dem Zivilfahrzeug Nummer 238 um. Es konnte weiß Gott wo geparkt sein. Zwei Dinge taten Detectives einfach nie: erstens auftanken und zweitens
bei den Schlüsseln eine Nachricht hinterlassen, der man entnehmen konnte, wo der Wagen stand.
Auf der Suche nach dem Wagen ging Thomlinson den Yellowstone Boulevard in nördlicher Richtung entlang, als er plötzlich vor einem Laden eine lange Schlange stehen sah. Da er seine Neugier nicht bezähmen konnte, steuerte er darauf zu, um zu sehen, was dort los war.
»Gibt’s hier was geschenkt?«, fragte er den letzten Mann in der Schlange.
»Zweihundertzweiundfünfzig Millionen Dollar gibt’s hier, Bruder«, antwortete der Mann.
Natürlich! Die Mega-Millionen-Lotterie, dachte er. Eine der größten Gewinnsummen der Lottogeschichte, und er wäre fast daran vorbeispaziert. Er stellte sich in die Schlange und sagte sich, dass Driscoll sicher nichts dagegen hätte. Mann, wenn er gewann, würde er Driscoll ein oder zwei Millionen abgeben. Schließlich hatte der Lieutenant zu ihm gehalten, als sich alle anderen von ihm abgewandt hatten.
Während sich die Schlange langsam weiterbewegte, kam Thomlinson ins Träumen darüber, was er mit so viel Geld machen würde. Er könnte ein ganz neues Leben anfangen. Er könnte endlich nach Hause zurückkehren. Für immer. Nach Hause, dorthin, wo es warm war. Nach Hause, wo er New York City und dessen kalte, gnadenlose Winter ein für alle Mal hinter sich lassen konnte. Seit jeher sehnte er sich zurück nach der Sonne und den schimmernden Sandstränden seiner Heimat Trinidad.
Dann hätten auch all die Blicke ein Ende, das Geflüster und das heimliche Getratsche. Genau wie die vorwurfsvollen Mienen und die Verachtung, die ihm einige Leute entgegenbrachten. Mann, die Stadt konnte ihre Pension
behalten. Als Lottomillionär würde er ins Büro des Polizeipräsidenten marschieren, ihm seine Dienstmarke auf den Schreibtisch werfen und wortlos wieder hinausgehen. Davon träumte doch jeder Cop. Warum nicht auch er?
Langsam ging es weiter voran in der Schlange, und erst nach zwanzig Minuten war er an der Reihe, seine Zahlen zu tippen. Er steckte die Spielquittungen in seine Hemdtasche und nahm die Suche nach dem Zivilfahrzeug wieder auf.
Der Wagen stand gut fünfzig Meter von dem Laden entfernt an einer Bushaltestelle. Er stieg ein, ließ ihn an und drehte das Radio auf. »I Shot the Sheriff« von Bob Marley dröhnte aus den Lautsprechern. Das ist es. Das muss ein Zeichen sein, dachte er. Ja, Herr Lotteriedirektor, ich nehme die Barauszahlung in einem Betrag, für mich keine Ratenzahlung, vielen Dank.
Als er losfuhr, blieben drei uniformierte Cops stehen, um den verrückten Detective anzustarren, der aus voller Kehle sang.
61. KAPITEL
Moira knallte die Tür hinter sich zu, hüpfte die Treppe hinunter und lief an der Hecke vorbei auf den Gehsteig. Sie suchte in beiden Richtungen die Straße ab, doch der Wagen, den sie erwartete, war nirgends zu sehen. Gereizt ging sie auf und ab und dachte an Driscoll. Er hatte sie vor seinen Leuten angeschrien und blamiert. Doch nun brauchte er wieder ihre Hilfe. Diesmal lasse ich ihn aber ganz schön dafür bluten, dachte sie.
Pierce konnte sein Glück kaum fassen. Da stand sie, mitten auf der Straße. Er sah ihr an, dass sie auf jemanden wartete, der sie abholte. Aber auf wen? Warnlampen blinkten vor seinem inneren Auge. Doch nach kurzem Nachdenken ergriff er die Gelegenheit
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