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Der Knochenjäger

Titel: Der Knochenjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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er mit dem Schmirgelpapier geglättet hatte - ein Os metacarpalis, ein schmaler Mittelhandknochen -, und ergriff die Handwurzelknochen, die er gestern abend, kurz bevor er zum Kennedy Airport gefahren war, um seine ersten Opfer aufzulesen, vorsichtig von Elle und Speiche gelöst hatte. Sie trockneten schon seit über einer Woche, dennoch kostete es ihn einige Mühe, die kunstvoll ineinandergefügten Knöchelchen zu trennen. Mit einem leisen Schnappen lösten sie sich voneinander.
    Oh, die Konstabler, die waren viel besser, als er erwartet hatte. Er hatte sie beobachtet, als sie die Pearl Street absuchten, und sich gefragt, ob sie wohl jemals darauf kämen, wo er die Frau festhielt. Um so erstaunter war er gewesen, als sie plötzlich auf das richtige Haus zurannten. Er hatte angenommen, daß es erst zwei, drei weiterer Opfer bedurfte, ehe sie die Hinweise zu deuten wußten. Sie hatten sie selbstverständlich nicht gerettet. Aber beinahe hätten sie es geschafft. Ein, zwei Minuten früher, und die Sache wäre ganz anders ausgegangen.
    Wie so vieles im Leben.
    Das Kahnbein, das Mondbein, das Hakenbein, das Kopfbein ... die Handwurzelknochen, ineinandergefügt wie ein Steckpuzzle, lösten sich unter seinen kräftigen Fingern. Er zupfte Fleisch- und Sehnenreste ab. Dann wählte er ein größeres Stück - das große Vieleckbein genau an der Daumenwurzel - aus und begann wieder zu schmirgeln.
    Schhhh, schhhh.
    Der Knochensammler kniff die Augen zusammen, als er das nächste mal hinausschaute und sich einbildete, er sähe an einem der alten Gräber einen Mann stehen. Es mußte sich um eine Einbildung handeln, denn er hatte einen Bowler auf und trug ein senffarbenes Cape. Er legte ein paar dunkle Rosen vor dem Grabstein nieder, wandte sich dann ab und spazierte zwischen Pferden und Fuhrwerken hindurch zu der anmutig geschwungenen Bogenbrücke, die den Abfluß des Collect Pond an der Canal Street überspannte. Wessen Grab hatte er aufgesucht? Das der Eltern? Eines Bruders? Die letzte Ruhestätte von Angehörigen, die an Schwindsucht oder bei einer der verheerenden Grippeepidemien gestorben waren, von denen die Stadt unlängst heimgesucht worden war -
    Unlängst?
    Nein, selbstverständlich nicht. Vor hundert Jahren - das meinte er.
    Wieder schaute er mit zusammengekniffenen Augen hinaus. Keinerlei Kutschen oder Pferde. Auch kein Mann mit Bowler. Dabei waren sie ihm so natürlich vorgekommen, so greifbar wie Wesen aus Fleisch und Blut.
    Soweit die greifbar waren.
    Schhhh, schhhh.
    Sie durchdrang ihn wieder, die Vergangenheit. Er sah Dinge, die sich früher ereignet hatten, damals, so als geschähen sie heute. Er konnte es steuern. Er wußte, daß er es steuern konnte.
    Doch als er aus dem Fenster blickte, wurde ihm klar, daß es selbstverständlich kein Früher oder Später gab. Für ihn nicht. Er konnte ziellos durch die Zeit treiben - ein Jahr, fünf Jahre, ein- oder zweihundert Jahre lang - wie ein trockenes Blatt im Wind.
    Er schaute auf seine Uhr. Zeit zum Aufbrechen.
    Er legte den Knochen aufs Fensterbrett, wusch sich sorgfältig die Hände - wie ein Chirurg. Dann strich er fünf Minuten lang mit der Fusselrolle über seine Kleidung und entfernte allen Knochenstaub, Schmutz und Haare, die die Konstabler auf seine Spur führen könnten.
    Er ging an einem halbfertigen Gemälde vorbei - ein mondgesichtiger Schlachter mit weißer, blutbespritzter Schürze - zur Kutschenremise. Der Knochensammler wollte erst in die Droschke steigen, überlegte es sich dann aber anders. Unberechenbarkeit ist der beste Schutz. Diesmal würde er die Chaise nehmen... die schwere Karosse, den Ford. Er ließ ihn an, fuhr hinaus auf die Straße, schloß das Garagentor und sperrte es ab.
    Kein Früher oder Später...
    Als er am Friedhof vorbeifuhr, blickten die Hunde kurz auf, dann stöberten sie weiter im Gestrüpp herum, wo sie Ratten aufscheuchten und verzweifelt nach Wasser suchten, mit dem sie bei dieser unerträglichen Hitze ihren Durst stillen konnten.
    Kein Damals oder Heute...
    Er zog die Skimaske und die Handschuhe aus der Hosentasche, als er das alte Stadtviertel verließ, und legte sie auf den Beifahrersitz. Der Knochensammler begab sich auf die Jagd.
     
     
    ZEHN
    Das Zimmer wirkte irgendwie verändert, aber sie kam nicht gleich darauf, woran es lag.
    Lincoln Rhyme sah es ihr an den Augen an.
    »Sie haben uns gefehlt, Amelia«, sagte er kokett.
    Sie wandte den Blick ab. »Anscheinend hat niemand meinem neuen Vorgesetzten Bescheid gesagt,

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