Der Knochenjäger
Klebeband zu schaffen.
Fünf Minuten lang nagte und knabberte sie um ihren Mund herum. Einmal kam eine andere Ratte angeschossen und schlug ihr die Zähne in den Knöchel. Sie schloß die Augen und versuchte, nicht auf den Schmerz zu achten. Die Schwarze verjagte das andere Tier, blieb dann im Dunkeln stehen und beobachtete sie.
Vorwärts, Schwarze! Komm schon!
Langsam kam sie zurückgetrippelt Mit tränenüberströmtem Gesicht senkte sie den Kopf, bot ihr den Mund dar.
Sie nagte und nagte ...
Komm schon!
Sie spürte ihren Atem, als sie das Klebeband durchbiß und große glänzende Stücke herausfetzte. Sie pulte sie aus dem Maul und betastete sie begierig.
Reichte das jetzt?
Es mußte reichen. Mehr hielt sie nicht aus.
Langsam hob sie den Kopf, Millimeter um Millimeter. Die Schwarze blickte sich flugs um und beugte sich neugierig vor.
Monelle sperrte den Mund auf und hörte ein wunderbares Geräusch - das zerreißende Klebeband. Sie holte tief Luft. Sie konnte wieder atmen!
Und sie konnte um Hilfe schreien.
»Bitte, helfen Sie mir!«
Die Schwarze erschrak bei ihrem schrillen Schrei, zuckte zurück und ließ das kostbare silberne Klebeband fallen. Doch sie entfernte sich nicht weit. Sie blieb stehen, wandte sich um und hockte sich auf die Hinterpfoten.
Sie achtete nicht auf die dunkle, geduckte Gestalt, sondern trat gegen den Pfosten, an den sie gefesselt war. Staub und Schmutz regneten herab, doch das Holz gab kein Stück nach. Sie schrie, bis ihr der Hals weh tat.
»Bitte. Helft mir!«
Doch in dem unentwegt dahinströmenden Verkehr ging jeder Ton unter.
Einen Moment lang rührte sich nichts. Dann hielt die Schwarze wieder auf sie zu. Diesmal war sie nicht allein. Das ganze Rudel folgte ihr. Schnuppernd, zaghaft. Aber unaufhaltsam angelockt vom Geruch ihres Blutes.
Knochen und Holz, Holz und Knochen.
»Mel, was hast du herausbekommen?« Rhyme deutete mit dem Kopf auf den Computer, der die Ergebnisse der gaschromatographischen und massenspektrometrischen Untersuchung auswertete. Cooper hatte die Schmutzspuren, die sich an dem Holzsplitter befunden hatten, ein weiteres Mal überprüft.
»Nach wie vor stark stickstoffhaltig. Viel zu viel.«
Drei Versuche, und jedesmal das gleiche Ergebnis. Das Gerät funktionierte einwandfrei, wie sich bei einem Probelauf herausgestellt hatte. Cooper dachte kurz nach und sagte: »Hohe Stickstoffwerte - möglicherweise ein Waffenhersteller oder eine Munitionsfabrik.«
»Dann wären wir in Connecticut, aber nicht in Manhattan.« Rhyme schaute auf die Uhr. Halb sieben. Wie rasend heute die Zeit verging, wenn man bedachte, wie langsam sie in den letzten dreieinhalb Jahren verstrichen war. Er fühlte sich, als wäre er schon tagelang wach.
Banks hatte sich in eine Karte von Manhattan vertieft und den bleichen Halswirbel beiseite geschoben, der heute schon einmal vom Tisch gefallen war.
Rhymes Rückenmarkspezialist, Dr. Peter Taylor, hatte das Knochenstück hiergelassen. Bei einem seiner ersten Besuche. Der Arzt hatte ihn fachmännisch untersucht, sich dann in dem knarrenden Rattansessel niedergelassen und etwas aus seiner Hosentasche gezogen.
»Ein kleiner Anschauungsunterricht«, hatte er gesagt.
Rhyme hatte auf Taylors offene Hand gestarrt.
»Das ist der vierte Halswirbel. Derjenige, den Sie sich gebrochen haben. Sehen Sie die Fortsätze?« Der Arzt drehte ihn eine Zeitlang hin und her und sagte dann: »Woran denken Sie, wenn Sie das sehen ?«
Rhyme hatte Hochachtung vor Taylor - er behandelte ihn nicht wie ein Kind, einen Schwachsinnigen oder ein lästiges Anhängsel -, aber an diesem Tag hatte er keine Lust auf phantasievolle Spielereien gehabt. Er hatte nicht geantwortet.
Taylor hatte sich dadurch nicht beirren lassen. »Manche Patienten meinen, es sehe aus wie ein Stachelrochen. Andere sagen, es sei ein Raumschiff. Oder ein Flugzeug. Oder ein Lastwagen. Aber keiner sagt: >Na, ein Stück Kalzium und Magnesium<. Klar: Man will nicht wahrhaben, daß einem wegen so einer Kleinigkeit das Leben zur Hölle wird.«
Rhyme hatte ihm einen skeptischen Blick zugeworfen, doch der Arzt, in Ehren ergraut und erfahren im Umgang mit rückenmarksgeschädigten Patienten, hatte lediglich erwidert: »Sie müssen mir vertrauen, Lincoln.«
Taylor hatte das Knochenstück dicht vor Rhymes Gesicht gehalten. »Sie wollen sich nicht damit abfinden, daß so ein kleines Ding so viel Leid verursachen kann. Doch das müssen Sie vergessen. Vergessen Sie es. Ich möchte, daß Sie daran
Weitere Kostenlose Bücher