Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Schauplatz irgendwo zwischen dem Balkan und dem Land seiner schlimmsten Träume. Überall auf dem bewaldeten Anwesen waren Leichen verteilt. Manche waren bestattet, andere hatte man in rostige Autos oder stählerne Transportbehälter gezwängt; wieder andere waren einfach zwischen die Bäume und neben schrottreife Gerätschaften geworfen worden, und ihr verwesendes Fleisch war nur von verschimmelter Pappe, Blättern oder Kiefernnadeln bedeckt. An dem Tag, als Rick dazukam, hatte man bereits 139 Leichen geborgen, und 29 davon waren von entsetzten Angehörigen identifiziert worden. Da Rick unter den Anwesenden der Einzige war, der Erfahrungen mit Massenbestattungen hatte, übernahm er bei der Leitung der Such- und Bergungsarbeiten eine Schlüsselrolle. Ein großes Hindernis für die Arbeiten waren die Bäume und das Unterholz, mit denen das Anwesen zum größten Teil bewachsen war; deshalb ging eine Mannschaft auf Ricks Vorschlag hin mit Kettensägen und Bulldozern daran, die Bäume zu fällen und den Boden bis hinab zu dem roten Lehm von Georgia freizulegen.
Einen Tag nachdem Rick hinzugekommen war, durchsuchte die Kriminalpolizei von Georgia das Haus von Ray Brent Marsh, das sich am Eingang zu dem Krematoriumsgelände befand. Die Polizisten suchten nach Unterlagen, die Aufschlüsse über Zahl und Identität der auf dem Gelände versteckten Leichen liefern konnten. Als sie das Haus durchstöberten, sahen sie im Hinterhof weitere Leichen liegen.
Mittlerweile standen bei den Bestattungsunternehmen im gesamten Südosten der Vereinigten Staaten die Telefone nicht mehr still. Besorgte Menschen fragten an, ob man ihre Angehörigen zum Tri-State Crematory geschickt hatte. Und wenn ja, waren es dann die echten Überreste, die auf dem Kaminsims standen oder auf dem Friedhof lagen? Oder verfaulten ihre geliebten Dahingeschiedenen in Wirklichkeit auf dem Gelände des Krematoriums?
Am Mittwoch, nur fünf Tage nachdem die Sache bekannt geworden war, summierten sich die Kosten für die Untersuchungen bereits auf fünf Millionen Dollar, und die Zahl der Leichen hatte sich auf 242 erhöht. Unterstützt durch Kettensägen und Bulldozer, fanden die Ermittler in den nächsten sechs Tagen noch einmal fast 100 weitere Tote. Erst am zwölften Tag hatten die grausigen Funde ein Ende.
Am Ende stand eine Gesamtbilanz von 339 Leichenfunden und unermesslicher Schmerz für die Familien, die wussten oder fürchteten, bei einer dieser Leichen könne es sich um den Vater, die Mutter, ein Geschwister oder ein Kind handeln. Von den 339 Toten wurden 75 im Laufe der ersten beiden Wochen identifiziert. Dabei handelte es sich größtenteils um relativ frische Leichen: traurig anzusehen, aber leicht zu erkennen. Aber so schmerzlich es auch gewesen sein muss, unter den aufgefundenen Leichen des Tri-State Crematory einen Angehörigen zu identifizieren, so hatten diese Familien doch zumindest schnell Frieden oder wenigstens die Chance, ihn zu finden. Für viele hundert andere jedoch zogen Ungewissheit und Kummer sich ewig hin.
Schon wenige Tage nachdem der Beamte der Umweltschutzbehörde den ersten Schädel gefunden hatte, begannen die juristischen Auseinandersetzungen mit dem Krematorium, aber auch mit den Bestattungsunternehmen, die Verträge mit der Institution abgeschlossen hatten. Als es so weit war, wandten sich auch die ersten Rechtsanwälte an mich.
Am 21. Februar bekam ich eine E-Mail von William Brown, einem Anwalt aus Cleveland in Tennessee. Er fragte an, ob ich die Überreste untersuchen könne, die das Tri-State Crematory an die Familie von Chigger Harden geschickt hatte. Verständlicherweise fürchtete die Familie, es könne sich bei der Asche in Wirklichkeit nicht um die von Chigger handeln.
Drei Wochen später brachte Bill Brown mir die Überreste. In einer doppelten Plastiktüte lagen wenige Hände voll dunkelgraues, ascheartiges Material. Alles zusammen, einschließlich der Tüten, wog 1650 Gramm. Das erschien mir wenig: Die neueste Veröffentlichung über das Gewicht eingeäscherter Reste nannte einen Durchschnittswert von 2895 Gramm für Männer und 1840 Gramm für Frauen. (Neugierig geworden, fing ich auch selbst an, das Thema genauer zu untersuchen. Während der nächsten fünf Monate ging ich mehrmals in der Woche zu einem hilfsbereiten Krematorium in der Nähe und wog die Reste, bevor sie an Familien oder Bestattungsunternehmen geschickt wurden. Nachdem ich das Gewicht der Asche von 50 Männern und 50 Frauen bestimmt hatte,
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