Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Und nun fragte Ramey, wie die Angehörigen weiter mit dem Toten verfahren wollten?
Die Familie Harden wollte immer noch, dass der Tote seinem eigenen Wunsch entsprechend eingeäschert wurde. Aber vorher wollten sie völlige Gewissheit, dass es sich tatsächlich um Chigger handelte. Bill Brown, ihr Anwalt, beauftragte mich mit der Untersuchung der Leiche und richtete es so ein, dass Untersuchung und Einäscherung unmittelbar nacheinander an derselben Stelle stattfinden konnten.
An einem klaren Oktobernachmittag begab ich mich zu dem kleinen, sauberen Gebäude, in dem die East Tennessee Cremation Company untergebracht ist. Es liegt am Rand eines Industriegebietes in der Nähe des Flughafens von Knoxville. Wenige Minuten später kam Bill Brown mit seiner Assistentin Lisa Scoggins und seinem Sohn Andy, der die Leiche und meine Untersuchung fotografieren und auf Video aufnehmen sollte. Auf diese Weise hatten sie Beweismaterial für den späteren Prozess.
Helen Taylor, die Leiterin des Krematoriums, führte mich in den Arbeitsbereich. Dort standen zwei makellos saubere IEE-EINÄSCHERUNGSÖFEN. Vor dem einen lag auf einem Rollwagen ein weißer Leichensack. Ich öffnete den Reißverschluss. Die Leiche war zum größten Teil skelettiert, nur hier und da hing noch ein wenig weiches Gewebe an den Knochen. Neben dem Schädel lag die Haarmatte, die sich aber bereits völlig gelöst hatte: Sie war lang, dick und braun wie die schulterlange Frisur auf dem Foto von Chigger, das Lisa mitgebracht hatte.
Die Leiche war nackt. Die Kriminalpolizei hatte die Kleidungsstücke entfernt und getrennt in einem Plastikbeutel verstaut. Verstreute Blätter und Kiefernnadeln zwischen Knochen und Kleidung erinnerten daran, dass die Leiche längere Zeit im Freien gelegen hatte. Nasenhöhlen und Ohren waren frei von Erde, für mich ein Hinweis, dass man die Leiche nie bestattet hatte. Hier und da fand ich kleine, verrottete Pappefetzen und eine Hand voll tote Dornspeckkäfer, Insekten, die gern getrocknetes Fleisch von den Knochen nagen.
Das Skelett war so gut wie vollständig; nur der Unterkiefer sowie die Knochen vom rechten Unterschenkel und Fuß fehlten - sie waren vermutlich von Aasfressern weggeschleppt worden. Ich untersuchte den Schädel. Er war groß und breit, hatte einen dicken Brauenwulst, und die Protuberantia occipitalis externa, der Höcker an der Schädelunterseite, war ungewöhnlich kräftig. Jeder Student aus meinem knochenkundlichen Kurs hätte darin ohne Schwierigkeiten den Schädel eines Mannes erkannt. Die Zähne ragten nicht nach vorn, sondern standen senkrecht, es handelte sich also um einen Weißen; und die Schädelnähte waren in einem Ausmaß verschmolzen, wie es für einen Mann zwischen 40 und 50 typisch ist. Nichts an dem Skelett widersprach der polizeilichen Identifizierung.
Die DNA-Probe hatte man aus einem Knochenstück von der Mitte des rechten Oberschenkels gewonnen. Brown bat mich, eine weitere Knochenprobe zurückzubehalten, damit ein unabhängiges genetisches Labor den amtlichen Befund noch einmal überprüfen konnte. Ich packte die Stryker-Obduktionssäge aus, die ich aus dem anthropologischen Institut mitgebracht hatte, und steckte den Stecker in die Steckdose.
Die Stryker-Säge ist ein geniales Werkzeug. Sie durchtrennt in wenigen Sekunden einen Oberschenkelknochen, man kann sie aber auch gegen den Unterarm eines Kindes halten, ohne dass sie auch nur die Haut ritzt. Das Geheimnis sind die kleinen Zähne: Sie sind ungefähr so groß wie bei einer Metallsäge, schwingen aber ein winziges Stück - rund eineinhalb Millimeter - hin und her. Hält man sie an hartes Material, beispielsweise die Knochen einer Leiche oder den Gipsverband eines Kindes, packen sie sofort zu. Drückt man sie aber leicht gegen die Haut, erzeugen die wackelnden Zähne höchstens ein Prickeln und Kitzeln.
Ich schnitt neben einer Kerbe, welche die Stryker-Säge der Polizei hinterlassen hatte, in den Knochen. Nach noch nicht einmal einer Minute hatte ich einen Viertelzylinder von etwa fünf Zentimetern Länge und zweieinhalb Zentimetern Breite herausgetrennt. Ich gab ihn Brown, der ihn an das unabhängige DNA-Labor schicken wollte. Als letzte Vorsichtsmaßnahme steckte ich einen Fingerknochen in einen Beutel, den ich ihm ebenfalls in die Hand drückte, nur für den Fall, dass irgendwann noch ein dritter Test notwendig wurde.
Als Nächstes öffnete ich den Beutel mit den Kleidungsstücken, der unten an dem Leichensack befestigt war. Die
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