Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
mag paradox erscheinen, aber wir bringen diesen verwesenden Leichen die größte Achtung entgegen, weil sie einen einzigartigen Beitrag zur forensischen Forschung und zur Suche nach Mördern leisten.
Beim Tri-State Crematory umschließt der Zaun zwei große, stallähnliche Gebäude, eine winzige Hütte mit einem Büro und eine Art Garage, aus der an einem Ende, wo das Krematorium liegt, ein rostiges Metallgestell herausragt. In den größeren Gebäuden befinden sich Totengruften aus Beton und Metall; vier Monate vor meinem Besuch waren diese Gruften mit verwesenden Leichen voll gestopft gewesen; jetzt waren sie leer.
Hinter den Gebäuden am Waldrand bemerkte ich einen defekten Leichenwagen, der im Schatten auf platten Reifen vor sich hin rostete. Als ich die Tür öffnete, stieg mir fauliger Verwesungsgeruch in die Nase; später erfuhr ich, im hinteren Teil des Wagens habe monatelang eine Leiche gelegen, bis das Anwesen im Februar durchsucht wurde. Nicht weit davon stand ein Wohnwagen und davor ein weiterer schrottreifer Leichenwagen. Neben dem Wohnwagen sah ich einen großen, kommerziellen Barbecuegrill, was einige interessante Fragen aufwarf - oder vielleicht auch nur unterstrich, welche bittere Ironie in dem nicht ordnungsgemäßen Betrieb des Krematoriums steckte.
In dem Krematoriumsgebäude selbst befand sich praktisch nichts außer dem Einäscherungsofen, einer massiven, fabrikmäßig aussehenden Konstruktion aus geschwärzten Schamottesteinen. Auf der Rückseite des Ofens lag die zweite Brennkammer zur Verbrennung der organischen Reste, die in der Hauptkammer noch nicht abgebaut wurden; sie sah ebenso wie der Rauchfang darüber aus, als sei sie an mehreren Stellen durchgerostet.
Ich schob die Ofentür auf und leuchtete mit einer Taschenlampe in die Hauptkammer. Zu meiner Erleichterung lag keine Leiche darin. Ich sah nur die Wände, die Decke und den Boden aus hitzebeständigen Steinen und Beton; das Material war an vielen Stellen gerissen und zerfallen. Der Boden des Ofens war geschwärzt, schmierig und voller Schmutz und Geröll; dazwischen lag mindestens ein kleiner, nicht verbrannter menschlicher Wirbel - er stammte von einem Kind -, den Polizei und D-MORT bei den Aufräumarbeiten übersehen hatten.
Ich war nicht der Einzige, der an diesem heißen Sommertag das Tri-State Crematory besichtigte. Man hatte ihn zum »Tag der offenen Tür« für alle Kläger erklärt, die Prozesse gegen das Krematorium, die Familie Marsh und verschiedene Bestattungsunternehmen anstrengen wollten. Alle beteiligten Anwälte, die der Kläger ebenso wie jene der verschiedenen Beklagten, hatten ihre Sachverständigen zu einer Besichtigung der Einrichtung mitgebracht. Darunter waren auch einige meiner früheren Studenten, die mich freundlich begrüßten. Einer von ihnen, Tom Bodkin, arbeitet heute in der Behörde des medizinischen Sachverständigen von Chattanooga; ein anderer, Tony Falsetti, ist Dozent für Anthropologie an der University of Florida. Außerdem erkannte ich Michael Baden, einen bekannten forensischen Pathologen aus New York, der von einem forensischen Zahnmediziner begleitet wurde. In Noble hatte sich eine bemerkenswerte Menge von forensischem Sachverstand zusammengefunden.
Mein Besuch sollte ein schnelles Ende nehmen: Tom Bodkin aus Chattanooga bückte sich im Bereich der Einfahrt und zeigte auf menschliche Knochen - nicht verbrannte menschliche Knochen -, die dort auf dem Boden lagen. Ein Beamter der örtlichen Polizei, der die vielen Anwälte und Wissenschaftler beaufsichtigen sollte, bat bei seiner Zentrale über Funk nach Anweisungen. »Sofort alles absperren«, kam die Antwort krächzend aus dem Äther. Er vertrieb uns von dem Anwesen, und wenige Minuten später traf eine Karawane von Streifenwagen der örtlichen Polizei und schwarzen Limousinen der Kriminalpolizei von Georgia ein; passenderweise sahen sie aus wie ein forensischer Trauerzug. Ich hatte mittlerweile ohnehin genug von dem Krematorium und seinem Ofen gesehen. Jetzt wusste ich, in welchem Zustand sich die Ausstattung befand: Ganz sicher sah sie nicht danach aus, als sei sie vom Hersteller regelmäßig gewartet worden.
Marktführer unter den Ausrüstern für Krematorien ist eine Firma in Florida, die den besonders nichts sagenden Namen Industrial Equipment and Engineering Company oder kurz IEE trägt. Im Sommer 2001, etwa neun Monate bevor die Geschichte aus Noble ans Licht kam, besichtigte ich die Fabrik von IEE in Apopka, einer
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