Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Köder

Der Köder

Titel: Der Köder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P.J. Tracy
Vom Netzwerk:
betrachtete die klägliche kleine Packung, verzog das
    Gesicht und sah dann schnell zur Seite. Dinge dieser Art waren ihm im Haus seiner Mutter in die Hände gefallen, nachdem er sie im
    vergangenen Jahr begraben hatte. Einzelne Streifen Kaugummi, so
    alt und brüchig, dass sie in ihren Stanniolhüllen zerfielen, als er sie berührte; Schachteln mit Kerzenstummeln und Fetzen von
    Einwickelpapier; und dann der rätselhafte Fund, der ihn bis heute beschäftigte – eine Papiertüte mit Strumpfhosen, und bei allen war jeweils ein Bein abgeschnitten. Das Sammelsurium der Toten zählte zweifellos zu den traurigsten Dingen der Welt.
    «Ist was, Langer?»
    Er schüttelte den Kopf und tat so, als studierte er einen alten
    politischen Handzettel, den er gerade aus dem Karton gezogen hatte.
    Über das lange Sterben seiner Mutter sprach er mit niemandem.
    Nicht mit seinem Partner, nicht mit seinem Rabbi, ja, nicht einmal mit seiner Frau, die wahrscheinlich auf seiner Liste des Scheiterns die Nächste war. Seine Mutter war die Erste gewesen. Nach einem
    Leben voller Liebe, Humor und Chicklets war er vor ihrem
    Alzheimer davongerannt und hatte sie fremden Menschen
    überlassen, die sie – ebenso wie er auch – alleine hatten sterben lassen.
    «Langer?»
    Nachdem er bei seiner Mutter versagt hatte, versagte er im Job.
    Wie ein blinder Idiot hatte er dagestanden, als der Monkeewrench-
    Killer auf einer Parkrampe in der Mall of America an ihm vorbeilief und sein letztes Opfer in einem Rollstuhl vor sich her schob. Er war ein Detective, verdammt noch mal, und er hatte einen Mörder nicht erkannt, der nur wenige Schritte entfernt war. Noch immer wachte er jede Nacht schwitzend und keuchend auf und musste an die
    Menschen denken, die nach jenem Tag ihr Leben verloren hatten.
    Wie leicht er sie hätte retten können.
    Und dann, natürlich, die ganz schlimme Geschichte, als er vor
    sich selbst versagt hatte, seinen Gott geleugnet und alles, woran er je geglaubt hatte, und das Komische daran war, dass es nur einen
    Moment gedauert hatte. Nein, nicht einmal so lange. Nur die
    wenigen Sekunden, die er gebraucht hatte, um…
    «Verdammt, Langer, was ist los mit dir?»
    Er zuckte zusammen, als Johnny McLarens Hand seine Schulter
    berührte, und dachte in dem Augenblick, sein Herz habe aufgehört
    zu schlagen. Und diese Möglichkeit ließ ihn kalt.
    «He, was ist denn los, Mann? Hast du die Grippe oder so was?
    Du schwitzt ja wie ein Schwein.»
    Langer richtete sich auf und wischte sich übers Gesicht, auf dem
    er einen glitschigen Film aus Furcht und Reue spürte. «Tut mir leid.
    Ja, vielleicht eine Grippe im Anzug.»
    «Dann setz dich hin, um Gottes willen. Ich hole dir Wasser. Und
    vielleicht solltest du überlegen, nach Hause zu fahren.» McLaren
    betrachtete ihn mit wachsamer, fast ängstlicher Besorgnis. «Du warst gerade eine Zeit lang richtig weggetreten, weißt du das? Hast mir einen mordsmäßigen Schreck eingejagt.»
    Langer lächelte ihn an, allein deswegen weil McLaren angeboten
    hatte, ihm Wasser zu holen. So eine alberne kleine Geste, und doch hatte sie ihn berührt, als sei es eine Freundlichkeit, die er ganz und gar nicht verdient hatte. «Schweine schwitzen nicht», sagte er.
    «Hä?»
    «Du hast gesagt, ich schwitze wie ein Schwein. Aber Schweine
    schwitzen nicht.»
    «Tun sie nicht?»
    «Nein.»
    McLaren wirkte vollkommen verblüfft. «Das ist so dumm. Mann,
    das macht mich stinksauer. Wieso zum Teufel denken die Leute sich Sprüche über schwitzende Schweine aus, wenn die gar nicht
    schwitzen?»
    «Keine Ahnung.»
    Als McLaren mit einem angeschlagenen Becher voller Wasser
    und zwei kleinen weißen Pillen zurückkam, saß Langer ruhig an
    seinem Schreibtisch und sah zu, wie das Gras auf der anderen
    Straßenseite der City Hall grüner wurde.
    «Du siehst schon besser aus.»
    «Ich fühle mich auch wieder gut. Normal. Was sind das für
    welche?», fragte er und stieß mit dem Finger nach den kleinen
    Pillen.
    «Aspirin. Na ja, eigentlich kein richtiges Aspirin. Konnte keine
    finden, aber Gloria hat gesagt, in diesen ist Aspirin oder Ace-
    soundso-tyl drin. Nur für den Fall, dass du vielleicht Fieber hast.»
    Langer drehte eine Pille um und schmunzelte, als er die Prägung
    sah, die er von den Tabletten kannte, die seine Frau gegen PMS
    einnahm. «Danke, Johnny. Das ist wirklich freundlich.»
    «Kein Problem. Weißt du, ich habe gedacht, du hast diesen
    Karton aufgemacht und dann – zack – wurde dir schlecht.

Weitere Kostenlose Bücher