Der Köder
einen Augenblick. «Nein?»
«Nein, habe ich nicht. Es war schon fast Halloween, als ich zum
ersten Mal hier draußen gesessen habe. Der arme alte Baum hatte
noch ungefähr drei Blätter übrig, und die waren knallgelb.»
Sie gab einen leisen Ton von sich, der keine erkennbare
Bedeutung hatte. «Das ist seltsam. Es kommt mir so vor, als würde ich dich schon viel länger kennen.»
Er war nicht so einfältig zu fragen, ob das ein gutes Zeichen war.
Er griff nur nach der Flasche, die zwischen ihren Stühlen auf dem Boden stand, und füllte ihre Gläser. Er trank einen Schluck und
lehnte sich dann auf seinem ureigenen und nagelneuen Deckchair
zurück. Er spürte, wie das letzte Überbleibsel vom Stress des Tages im fröhlich vernachlässigten Gras auf Grace' Hinterhof versickerte.
Was für ein armseliger Kerl er doch war. Nach einer sechs
Monate langen Beziehung zu einer Frau, die er noch nicht einmal
geküsst hatte, saß er hier und war glücklicher als je zuvor in seinem Leben. Frustriert, klar, wegen des quälenden Mangels an
körperlicher Nähe, aber nichtsdestoweniger glücklich – absolut. Er war eine Schande für alle italienischen Männer weltweit, aber er
konnte nichts daran ändern. Hier bestand eine Verbindung, die so
stark war, dass er es sich nicht zu erklären versuchte. Er hatte es bereits beim ersten Mal gespürt, als er mit dieser Frau und diesem Hund auf diesem Hof gesessen hatte – das Gefühl, daheim zu sein,
sogar an diesem Ort, wo es stets Vorbehalte gab, die hinter dem
Willkommen bestehen blieben, das ihm bereitet wurde.
Deswegen habe ich keine Möbel, Gino. Ich wohne dort nicht.
«Was denkst du?»
«Dass ich glücklich bin.» Es kam ihm gar nicht in den Sinn zu
lügen.
«Das ist schön. Ich habe die Zeitungen gelesen und Nachrichten
gesehen. Du hast wieder einen Fall zu lösen. Das ist dein
Lebensinhalt, glaube ich.»
«Es hat aber nichts damit zu tun, dass ich in diesem Moment
glücklich bin.»
«Ich weiß. Erzähl mir von dem Fall.»
«Eigentlich sind es zwei Fälle. Morey Gilbert, der Mann, dem die
Gärtnerei gehörte, und Rose Kleber, aber wir haben nichts, was sie in Verbindung bringen könnte…»
«Was ist mit dem Mann, der an die Eisenbahnschienen gefesselt
gefunden wurde?»
«Langer und McLaren arbeiten daran. Keine Verbindung zu
unserem Fall. Wir haben ältere Juden, ziemlich saubere Morde. Ihrer war ein Lutheraner, den jemand genug gehasst hat, um ihn zu
quälen.»
«Also schön, dann zwei. Und es gibt einen Haufen Detectives
vom Morddezernat, die keine Morde zu bearbeiten haben, während
du und Gino gleich zwei Fälle untersucht? Hört sich zumindest so
an, als würde jemand an einen Zusammenhang glauben.»
Magozzi zuckte die Achseln. «Eine vage Verbindung. Wir
überprüfen sie.»
«Wie vage?»
Er rutschte ein wenig in seinem Stuhl, fühlte sich plötzlich
unbehaglich. «Das gehört zu den Informationen, die wir
zurückhalten.»
«Komm schon, Magozzi. Du möchtest, dass ich das neue
Programm mit den Namen füttere, stimmt's? Um zu sehen, ob etwas
auftaucht?»
«Gino und ich dachten, es wäre vielleicht einen Versuch wert.»
«Na schön. Du hast gesehen, wie das Programm deine ungelösten
Fälle bearbeitet hat. Du weißt, dass es Hunderte von Datenbeständen durchsieht und nach Verbindungen fahndet. Manche davon sind
verdammt langsam. Ich brauche alle Informationen und
Verknüpfungen, die ihr habt, um die Suchparameter einzugrenzen,
weil es sonst Tage dauern könnte.»
Es war nicht so, dass er Grace misstraute. Neben Gino war sie
der Mensch, dem er am meisten vertraute. Himmel, schließlich saß
er unter einem Baum mit einem möglicherweise gefährlichen Vogel
über sich, oder? Im Vertrauen darauf, dass Grace MacBride ihre
Waffe ziehen und den Piepmatz erschießen würde, sollte er
angreifen. Aber die Vorschriften des Police Department zu verletzen, ging ihm immer noch gegen den Strich, und Magozzi war, zu seinem
ewigen Bedauern, kein Rebell.
«Ich habe nicht mehr ewig Zeit, Magozzi.» Sie verschränkte die
Arme ineinander, wie immer voller Ungeduld mit ihm, wenn er nicht von dem schmalen Pfad abweichen wollte, den die Regeln
bestimmten. «Wir fangen übermorgen damit an, die Computer in
unser Wohnmobil zu laden.»
Er schloss die Augen bei der Erinnerung, dass sie fortgehen
würde. «Sie hatten Tätowierungen auf den Armen, beide.
Morey Gilbert war in Auschwitz, Rose Kleber in Buchenwald.»
Er spürte ihren Blick in
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