Der Köder
dass ihr die Stimme genommen war, aber es gelang ihr, die Hände auf den Bauch zu legen und ihm mit den Augen die Frage zu stellen.
«Es ist okay, Hannah», beruhigte er sie, und als könnte er
verhindern, dass das Leben entwich, presste er eine Hand so fest auf ihren Hals, wie er sich traute. «Dem Baby geht es gut. Dem Baby geht es gut.»
Das sagte er ihr wieder und immer wieder, bis ihre Augen
erloschen und ihre Hand leblos auf den Betonboden rutschte.
Der Krankenwagen kam nach fünf Minuten. Er war nur drei
Minuten zu spät.
Marty hatte nicht gehört, wie der Junge davonlief. Aber an das Gesicht konnte er sich erinnern.
Bewegungslos stand er lange Momente vor dem Schrank, atmete
und kehrte langsam zurück. Die Bilder jenes Abends waren immer
bei ihm. Jeden Tag rief er sie sich vor Augen. Aber niemals war die Erinnerung ganz vollständig gewesen, waren die Bilder so grausam
und lebendig gewesen wie jetzt. Er hatte immer gewusst, dass er sich eines Tages wieder an das gesamte entsetzliche Geschehen erinnern würde, und er hatte mit der Gewissheit gelebt, dass er dann endlich in der Lage sein würde abzudrücken.
Es nahm ihm den Atem, als ihm bewusst wurde, dass er sich
geirrt hatte. Er hatte eine Waffe in der Tasche und verspürte keine Neigung, sie zu betätigen. Er hatte das Schlimmste gesehen, was sein Erinnerungsvermögen anzubieten hatte, und jetzt spürte er
wunderbarerweise, dass er es loslassen konnte.
Lily saß mit einem Buch auf dem Schoß auf ihrem Stuhl, als er
wieder ins Haus kam. Sie hatte sich in einen lila Frotteemantel
gehüllt und trank Wasser aus einem bunt gestreiften Glas. Sie klopfte auf die Armlehne des Sofas neben ihrem Stuhl. «Setz dich einen
Augenblick. Du warst lange weg. Ich habe mir schon Sorgen
gemacht.»
Marty setzte sich aufs Sofa und sank in die Kissen zurück, die im Laufe der Jahre von geliebten Menschen weichgesessen waren.
«Minneapolis ist nicht mehr so sicher, dass man sich jederzeit auf der Straße herumtreiben kann. Du brauchst dir natürlich keine
Sorgen zu machen, mit der Waffe in der Tasche.»
Marty schmunzelte. Lily entging aber auch gar nichts.
«Aber Waffen sind gefährlich. Sie könnte losgehen, und du
könntest dich aus Versehen selbst erschießen.»
«Ich werde mich nicht selbst erschießen, Lily.»
Lily legte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn. «Gut zu hören, Marty. Dann habe ich mir all die letzten Monate umsonst Sorgen
gemacht.»
Marty sah in hellblaue alterslose Augen und fragte sich, was
geschehen würde, wenn jemand in dieser Familie einmal die
Wahrheit sagen würde. «Ich habe daran gedacht», sagte er, um das
Terrain zu sondieren.
«Du scheinst weiterhin daran zu denken, wenn du eine Waffe
trägst.»
Das mit der Wahrheit schien sich gut anzulassen. Marty
entschied sich, es noch mal zu versuchen. «Jack hat mich gebeten, nach Hause zu fahren und sie zu holen. Er macht sich Sorgen wegen der Morde und möchte, dass ich ein Auge auf dich habe.»
Lily trank einen Schluck Wasser, ohne ihn anzusehen. «Das hat
er gesagt?»
«Hat er.»
«Hm. Also habe ich jetzt einen Leibwächter? Du ziehst hier ein
und bleibst für immer? Das ist ein sehr großer Koffer, den du da
mitgebracht hast.»
Marty lächelte ein wenig müde und sah hinunter auf den alten
Tweed-Samsonite, den Hannah und er sich für ihre Flitterwochen
gekauft hatten. «Ich werde bleiben, bis die Polizei herausgefunden hat, wer hier mordet.»
Sie setzte ihr Glas sehr behutsam auf dem Tisch ab und schob
sich aus ihrem Stuhl in die Höhe. «Dann kannst du ihn genauso gut auch auspacken.»
Marty hängte gerade sein letztes Paar Khakihosen in den
Schlafzimmerschrank, als er ein leises Klopfen an der Tür hörte.
Ohne auf Antwort zu warten, trat Lily mit einem Stapel penibel
zusammengelegter Kleidungsstücke ein und setzte ihn auf dem Bett
ab.
Er blickte unsicher auf die blendend weißen Boxershorts, die
oben auf dem Stapel lagen. «Gehören die mir?»
«Ich habe sie den ganzen Tag in Bleiche einweichen müssen.
Hast du schon mal was von Bleiche gehört?»
Er ging zum Bett und hob die Boxershorts hoch. Sie hatten vorne
rasiermesserscharfe Bügelfalten. «Du hast meine Unterwäsche
gebügelt?»
Sie zuckte die Achseln. «Leben wir im Urwald? Natürlich habe
ich sie gebügelt.» Sie tippelte zum Wandschrank und untersuchte die Khakihosen, die er gerade erst aufgehängt hatte. «So kann man doch keine Hosen aufhängen», sagte sie, zog ein Paar nach
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