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Der König auf Camelot

Der König auf Camelot

Titel: Der König auf Camelot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.H. White
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Er war eine Dimension,
eine Macht der Dunkelheit. In der Menschenwelt kommt der Wind irgendwoher und
geht irgendwohin und streicht dabei durch irgend etwas – durch Bäume oder
Straßen oder Knicks. Dieser Wind kam nirgendwoher. Er fuhr durch das platte
Nichts – nirgendwohin. Horizontal, geräuschlos (von einem eigenartigen Dröhnen
abgesehen), greifbar, ad infinitum – so strömte das verblüffend greifbare
Gewicht über den Schlamm. Man hätte es mit einer Klinge durchschneiden können.
Die titanische graue Linie war unerschütterlich und fest. Man hätte den Griff
eines Regenschirms darüberhaken können, und er wäre dort hängengeblieben.
    Diesen Wind im Gesicht, hatte Wart das Gefühl,
nicht erschaffen zu sein. Von der feuchten Festigkeit unter seinen
schwimmhäutigen Füßen abgesehen, lebte er im Nichts, einem massiven Nichts, wie
es das Chaos ist. Es war das Gefühl eines Punktes in der Geometrie, eines
mysteriösen Daseins auf der kürzesten Entfernung zwischen zwei Punkten – oder
einer auf glatter Fläche gezogenen Geraden, die Länge und Breite hatte, doch
keine Größe. Keine Größe? Es war die personifizierte Größe.
    Es war Macht, Strömung, Kraft, Richtung, ein
pulsloser Welt-Strom der Vergessenheit.
    Diesem Fegefeuer, dieser unheiligen Vorhölle waren
Grenzen gesetzt. Weit im Osten, vielleicht eine Meile entfernt, war ein
ungebrochener Geräusch-Wall. Er wogte ein wenig, brandete, schien sich
auszudehnen und zusammenzuziehen, war indessen fest und massiv. Es klang
bedrohlich, auf Opfer lüstern – denn es war das gewaltige, unbarmherzige Meer.
    Zwei Meilen im Westen waren drei Lichtpunkte, im
Dreieck angeordnet: die dürftigen Dochte in den Hütten von Fischern, die früh
aufgestanden waren, um bei Flut an einem der Priele im Watt zu sein. Manchmal
lief das Wasser dem Meer entgegen. Das war die Gesamtheit seiner Welt: das Meeresrauschen
und die drei kleinen Lichter -Dunkelheit, Unendlichkeit, Flachheit,
Feuchtigkeit – und, im Schlund der Nacht, der Golfstrom des Windes.
    Als der Tag warnend heraufdämmerte, stellte der
Junge fest, daß er inmitten einer Ansammlung von seinesgleichen stand. Sie
saßen auf dem Schlamm, im Schlick, auf den das Meer langsam wieder zurückkroch,
oder schwammen schon auf dem Wasser, das sie geweckt hatte, außerhalb der
lästig brodelnden Brandung. Die Sitzenden waren wie große Teekannen, deren
Schnabelhälse unter den Flügeln steckten. Die Schwimmenden tauchten bisweilen
ihren Kopf unter und schüttelten ihn. Einige, die auf dem Schlamm wach wurden,
standen auf und schlugen heftig mit den Flügeln. Das tiefgründige Schweigen
wurde von einem schwatzhaften Geschnatter abgelöst. Es waren ihrer an die
vierhundert auf diesem Platz – wunderschöne Geschöpfe, die wilden,
weißstirnigen Bläßgänse, die niemand vergißt, der sie einmal von nahem gesehen
hat.
    Lang ehe die Sonne kam, machten sie sich
flugbereit. Familienclans aus der Brut vom Vorjahr schlössen sich zu Gruppen
zusammen, und diese wiederum schlössen sich anderen an, vielleicht unter dem
Kommando eines Großvaters, oder auch eines Urgroßvaters, oder aber eines
weithin bekannten und geachteten Führers. Sobald die Züge komplett waren, kam
ein leiser Ton der Erregung in ihre Unterhaltung. Sie fingen an, ihre Köpfe
ruckartig von einer Seite zur anderen zu bewegen. Dann drehten sie sich in den
Wind und waren plötzlich allesamt in der Luft, vierzehn oder vierzig zugleich;
ihre weitgespannten Flügel schöpften die Schwärze aus, und in ihren Schreien
klang Triumph mit. Sie wendeten, stiegen steil auf und waren den Blicken entschwunden.
In zwanzig Schritt Höhe waren sie nicht mehr zu sehen. Die ersten Gruppen zogen
lautlos ab; sie schwiegen, solange die Sonne nicht schien; nur gelegentlich gab
es eine Bemerkung oder einen einzelnen Warnruf, wenn Gefahr drohte. Wurde gewarnt,
stiegen sie sogleich senkrecht gen Himmel.
    Wart verspürte ebenfalls eine gewisse Unruhe. Die
grauen Heere rings umher, die sich nacheinander in die Lüfte erhoben, steckten
ihn mit ihrer Reiselust an. Er hätte es ihnen allzu gerne gleichgetan, aber er
scheute sich. Möglicherweise würden diese Familienverbände ihn als
unerwünschten Eindringling betrachten. Andererseits wollte er nicht abseits
stehn; er wollte mitmachen und am Morgenflug teilnehmen, der offensichtlich
große Wonne bereitete. Es herrschte Kameradschaft, freie Disziplin und joie de
vivre.
    Als die Gans neben dem Jungen ihre Flügel lüpfte
und sprang, tat

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