Der König der Diamanten
drückten seinen Kopf mit ihren klammen Händen nach unten. Und als er in das kalte, schwarze Wasser des Sees eintauchte und spürte, wie es über ihm zusammenschlug, und anfing, um Luft zu ringen, obwohl er genau wusste, dass das aussichtslos war, hörte er ihre Stimmen in seinem Kopf. Sie sagten ihm, dass er sterben müsse, weil sie auch tot waren.
Der Traum wurde mit jedem Mal schlimmer. Er lag keuchend im Halbdunkel und versuchte seine unsichtbaren Verfolger abzuschütteln, bis ihm wieder einfiel, wo er war, und er über sich Toomes’ gleichmäßiges Atmen und außerhalb der Zelle die Schritte der Nachtwache auf dem eisernen Treppenabsatz hörte. Genau um diese Uhrzeit würden bald fremde Männer kommen. Sie würden ihm die Hände auf dem Rücken zusammenbinden, würdeneine Schlinge um seinen Hals legen und würden ihn töten. Schluss, aus. Und so sehr er sich auch anstrengte, er konnte nichts daran ändern. Gar nichts.
Die Tage vergingen, und Davids Angst wurde immer größer. Am Tag vor Beginn der Verhandlung wurde er aus der Zelle geholt: Er hatte Besuch. Nervös überquerte er den Gefängnishof: Bis auf seinen Anwalt hatte ihn bislang nur dieser Bulle besucht, dieser Trave. Vor einem Jahr war das gewesen, in Brixton. Wer jetzt zu Besuch kommen mochte, war ihm völlig schleierhaft. Umso erfreuter war er, als er seine Mutter erkannte.
Er küsste sie ungeschickt, setzte sich dann hin und musterte sie. Anstelle des hellblauen Kittels, den sie zu Hause immer anhatte, trug sie ein dunkelgraues Kleid und schicke, glänzend schwarze Schuhe. So hatte David sie erst einmal gesehen – beim Begräbnis seines Vaters. Sie standen ihr gut, und David wurde plötzlich bewusst, dass seine Mutter einmal hübsch gewesen war und es in ihrem Leben auch anderes gab, als einen unzuverlässigen Ehemann und ein undankbares Kind zu versorgen.
Neben ihrem Jackenaufschlag war eine kleine Brosche. Nichts Besonderes, irgendeine kleine Blume, aber David war gerührt bei dem Gedanken, dass seine Mutter an ihrer Frisierkommode saß und die Schublade nach dieser albernen Brosche durchwühlte, um sich hübsch zu machen für einen Besuch bei ihrem missratenen Sohn, der in London im Gefängnis saß.
Sie saß kerzengerade auf ihrem Stuhl, hielt aber den Blick gesenkt und starrte auf den leeren Eisentisch, der sie beide voneinander trennte. David bemerkte, dass sie die kleine schwarze Handtasche auf ihrem Schoß fest umklammert hielt. Fast hatte er Mitleid mit ihr, denn ihm war klar, wie viel Überwindung es sie gekostet haben musste, ihn hier zu besuchen, wo sie doch alles getan hatte, um ein unbescholtenes Leben zu führen.
»Wie war die Fahrt?«, fragte er, um das unangenehme Schweigen zu durchbrechen, das sich unmittelbar nach dem Hinsetzen eingestellt hatte.
»Ging alles gut«, sagte sie nervös und drückte die nur zur Hälfte gerauchte Zigarette aus. »Ich bin eine Ewigkeit nicht in London gewesen. Es ist größer, als ich gedacht habe. Viel mehr Menschen.«
David sah sie rasch nach links und rechts blicken, die Paare an den angrenzenden Tischen mustern: Die Männer in ihren farblosen Gefängnisanzügen, die Frauen in ihren schönsten Sonntagskleidern. Er fragte sich, ob seine Mutter wohl jemals in ihrem Leben ein Gefängnis von innen gesehen hatte? Wahrscheinlich nicht.
»Danke jedenfalls, dass du gekommen bist«, sagte er. »Ich weiß, dass das für dich nicht leicht war.«
»Das stimmt«, sagte sie und sah für einen Moment hoch zu ihm, bevor sie den Blick wieder senkte. »Aber das musste jetzt sein. Ich hätte schon früher kommen müssen. Es tut mir leid.«
»Du bist also nur hier, weil es sein musste, und nicht, weil du kommen wolltest?«, fragte David. Er hatte schließlich auch seinen Stolz. Mitleid musste man mit ihm nicht haben.
»Ich bin hier, weil ich hier sein will«, sagte sie ruhig und hielt seinem Blick jetzt stand. »Ich habe doch gesagt, dass es mir leid tut.«
»Also gut, mir tut es auch leid«, sagte David und atmete durch. »Ich bin froh, dass du da bist. Weiß Ben Bescheid?«
»Ja. Ich bin keine, die lügt. Das solltest du doch wissen.«
David nickte. »Und was sagt er dazu?«, fragte er dann.
»Es hat ihm nicht gepasst. Er hat rumgeschrien und geflucht. Aber er hat sich beruhigt, als ihm klar wurde, dass ich meine Meinung nicht ändere.«
»Er hasst mich. Das weißt du.«
»Es ist nicht wichtig, was er denkt.«
»So hast du das früher aber nicht gesehen, oder?«, sagte David,der die
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