Der König der Diamanten
Mord an Katya überall in der Stadt gehangen hatten. Eddie Earle war im Profil zu sehen – in einem Bericht über den Ausbruch aus dem Oxforder Gefängnis. Dann Titus Osman im Smoking bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung im vergangenen Monat. Und schließlich, in der Mitte der gegenüberliegenden Wand, oberhalb zweier Aufnahmen von Blackwater Hall, ein Triptychon aus Großaufnahmen eines Mannes, der wie eine jüngere Version von Franz Claes aussah, allerdings ohne Narbe unter dem rechten Ohr. Auf dem ersten Bild trug er eine Militäruniform und stand vor einem Mikrofon auf einem Podest, von dem er zu einer Menschenmenge sprach. Über seinem Kopf hing ein Banner mit einem dicken, schwarzen Schriftzug. Offenbar war das Niederländisch, und weder Trave noch Clayton konnten lesen, was da stand, doch unter dem Bild stand in säuberlicher Schrift
Flämische Nationalbewegung 1938
.
Auf dem nächsten Bild, dem in der Mitte, bildete Claes den linken Abschluss einer Reihe von Männern in Anzügen, die an einem langen Tisch saßen und vor sich zwei Männer mit Kippa auf dem Kopf und Davidstern an der Jacke hatten. Auch hier gab es eine handgeschriebene Bildunterschrift:
Treffen der Geheimpolizei mit A. J. B. – Antwerpen, Juli 1942
. Das dritte Bild war dann allerdings das eindrucksvollste. Hier stand Claes zwischen zwei anderen Männern vor einer Art Regierungsgebäude. Claes war wieder im Anzug, doch seine beiden Begleiter trugen deutsche Uniformen. Unter das Bild hatte Jacob in dicken Großbuchstaben geschrieben:
Asche, Claes, Ehlers – Sipo SD, Brüssel – August 1943 – Letzte Aufnahme?
Trave warf Clayton einen Blick zu und pfiff leise durch die Zähne, sagte aber nichts und untersuchte weiter das Zimmer. Der Lichtkegel der Taschenlampe hatte jetzt eine große Europakarte erfasst, auf der sich farbige Linien von Belgien aus wie die Tentakel eines Oktopus nach Süden und Westen erstreckten. Das waren offensichtlich Fluchtrouten, dachte Trave bei sich. Solche, über die die Flucht gelungen war, und solche, bei denen die Flüchtlingeabgefangen und ins Lager Mechelen gesteckt worden waren, um von dort aus nach Osten transportiert zu werden. So wie die Eltern von Jacob. Auf dem Sims über dem Gaskamin war ein Bild von ihnen mit ihren beiden Söhnen – eine gerahmte Studioaufnahme, die gemacht wurde, als Ethan und Jacob noch Kinder waren. Die Buben, mit Tweed-Anzügen und Kniestrümpfen, standen links und rechts von ihrer Mutter, die im knöchellangen schwarzen Kleid auf einem Stuhl saß. Ihr Mann hinter ihr hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt. Alle sahen ernst, fast sogar steif aus, doch die Berührung der Eltern wirkte echt – was Trave genügte, um zu wissen, dass Avi Mendel und seine Frau sich geliebt hatten, bevor sie ermordet wurden. Er schloss die Augen und dachte an die unzähligen anderen Opfer. Fotografien waren die einzige Möglichkeit, das Grauen irgendwie zu begreifen, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf.
Clayton hatte am Fenster gestanden, um sowohl Traves Taschenlampe auf ihrem Weg über die Wände des Zimmers folgen zu können als auch zu sehen, was auf dem Trottoir vor dem Haus passierte, auf das eine Straßenlaterne schwaches Licht warf. Da Trave reglos verharrte und seinen Gedanken nachhing, nahm Clayton ihm ungeduldig die Taschenlampe aus der Hand und begann, den Papierhaufen auf dem Tisch in der Mitte des Raumes zu untersuchen. Ein Blatt nach dem anderen nahm er sich vor: Briefe; Zeitungsberichte über Swains Verhandlung, darunter auch einer über den Prozessbeginn im Old Bailey am vergangenen Mittwoch; eine handschriftliche Liste der potentiellen Belastungszeugen, teils durchgestrichen, teils mit Fragezeichen versehen, wobei Clayton feststellte, dass sein Name und der von Trave unkommentiert waren; ein Brief von vor zwei Monaten, der Edward Newmans Aufnahme in den örtlichen Schützenverein bestätigte; ein Mietvertrag für die Wohnung vom vorigen Mai, ausgestellt auf den Namen Jacob Mendel …
»Irgendetwas muss passiert sein. Jacob hat seinen Namen erstgeändert,
nachdem
er hierhergekommen ist«, sagte Clayton und zeigte Trave das Dokument.
»Natürlich. Wissen Sie den Grund nicht?« Trave machte eine Pause, doch Clayton schüttelte den Kopf. »Er ist unser Dieb, Adam. Er ist der, der letzten Sommer in Osmans Arbeitszimmer eingebrochen ist und sich mit unserem Nazi-Freund geprügelt hat«, sagte Trave und zeigte auf die Bilder von Claes an der Wand. »Im Schlafzimmer habe ich eine
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