Der König der Diamanten
eingenäht, als Claes sie an der Grenze abfing. Und nach Mechelen verfrachtete. Wissen Sie Bescheid über Mechelen, Inspector?«, fragte Jacob, indem er sich zu Trave drehte.
»Ja. Ihre Großmutter hat mir davon erzählt«, sagte Trave leise.
»Aber Sie sind nicht hin, oder? Gesehen haben Sie es nicht?« Trave schüttelte den Kopf. »Das dachte ich mir. Heute sieht es nach nichts Besonderem aus – eine alte Kaserne an einer Bahnlinie, mit einem großen Hof in der Mitte. Das belgische Heer bildet dort Offiziere aus. Ausgerechnet dort. Und nichts als eine kleine Tafel erinnert an die Geschichte. Dabei müsste ein Denkmal dort stehen: das größte Denkmal von ganz Belgien. Damit niemand vergisst, was dort geschehen ist. Das darf niemals vergessen werden …«
Jacob brach ab und atmete tief durch. Als er dann weitersprach, war seine Stimme dünn und tonlos, als könne er nur so über die Vergangenheit reden.
»Der Lagerkommandant hieß Schmitt – Philipp Schmitt. Ein Sadist. Er nahm bei ankommenden Frauen persönlich die Leibesvisitation vor und hetzte seine riesigen Schäferhunde auf die Häftlinge. Einer starb an den Bissen. Aber das war der Einzige. In Mechelen starben die Leute nicht. Man brauchte sie lebendig, damit die Züge voll wurden. Am Anfang war es einfach: Die Juden meldeten sich freiwillig, um zur Zwangsarbeit in den Osten gebracht zu werden. Zwei Züge schickte die SS jede Woche los. Doch dann kamen Gerüchte darüber auf, was die Menschen am Ankunftsort wirklich erwartete, und die Juden versteckten sich. Jetzt führten die Nazis Razzien durch und durchkämmten nachts die Städte. Trotzdem trafen viel weniger Juden in Mechelen ein als am Anfang. Man musste immer warten, bis genug Leute für einen Transport beisammen waren. Meine Eltern mussten zwei Monate warten, Inspector. Ich weiß nicht, ob ihnen klar war, wohin die Reise geht – ich bete zu Gott, dass das nicht der Fall war, aber im Grunde bin ich überzeugt davon, dass sie sehr wohl Bescheid wussten. Und dennoch waren sie voller Hoffnung, dass sie am Leben blieben.«
Jacob hielt inne und warf einen Blick in die Dunkelheit vor dem Fenster, als könne er so besser in die Vergangenheit blicken.
»Als 42 die Deportationen begannen, setzte die SS zunächstEisenbahnwagen der dritten Klasse ein«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Nachdem aber die Leute aus den Fenstern sprangen, nahmen sie Güterzüge: 70 Menschen pro Waggon, ohne Wasser, fast ohne Belüftung, und am Ende der Reise – das Ende der Welt. Gebrüll und Schreie und Stacheldraht und Flutlicht und Hunde und … und …«
»Sie müssen nicht darüber reden. Sie müssen nicht«, sagte Trave. »Wir haben Verständnis …«
»Das haben Sie nicht. Sie haben keine Ahnung«, unterbrach Jacob in höchster Erregung. »Die Selektionen fanden direkt am Gleis statt. Sie wissen schon – rechts ging’s ins Lager, links direkt ins Gas. Und meine Eltern – sie wurden getrennt. Mein Vater kam auf die Seite des Lebens, meine Mutter auf die des Todes. Das war ihr letzter gemeinsamer Moment – dass man sie an diesem furchtbaren Ort voneinander trennte. Ich sehe es mit seinen Augen; ich sehe es mit ihren Augen. Immer und immer wieder.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Trave. »Ihre Großmutter hat nichts erwähnt …«
»Ich habe es ihr nicht gesagt. Sie hat genug durchgemacht – warum sollte sie diese Erinnerung auch noch mitschleppen? Ich habe es nachgelesen – die Deutschen haben über alles Listen geführt. So waren sie. Als der Transport Mechelen verließ, waren beide an Bord des Zuges, doch auf den Lagerlisten taucht dann nur der Name meines Vaters auf. Sechs Monate und zwei Wochen hielt er durch, was für jemand in seinem Alter normal war. Dann wurde auch er ins Gas geschickt. Überlebende gab es nicht. Wer das sagt, erzählt Märchen. 25 000 Juden aus Mechelen kamen von 42 bis 44 nach Auschwitz. 1000 kehrten zurück. Und niemand wollte hören, was sie zu erzählen hatten. Nur Leute wie ich – Waisenkinder, die sich verstecken konnten oder geflohen waren. Und wir haben die Aufgabe, Peiniger wie Claes und Osman für das bezahlen zu lassen, was sie unserem Volk zugefügt haben – wenn ihr Nichtjuden es schon nicht tut.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Clayton. Er stand immer noch in der Tür und versperrte Jacobs einzigen Fluchtweg.
»Ich meine Sie, Detective Wie-war-noch-mal-Ihr-Name?«, sagte Jacob, indem er die Worte fast herausspuckte. »Dass ich letzten Sommer in
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