Der König der Diamanten
Gerichtssaal, als er seine Aussage gemacht hatte und alle zur Mittagspause verschwunden waren. Er setzte sich auf Macraes Stuhl am Polizeitisch, starrte auf den Zeugenstand und versuchte, sich an etwas zu erinnern, das mit Katya zu tun hatte und ihm seit seinem Gespräch mit Vanessa im Kopf herumgeisterte, ohne rechte Form anzunehmen. Er konnte sich gut daran erinnern, wie das Mädchen in seinem spärlich möblierten, blitzblank aufgeräumten Zimmer auf dem schmalen Bett lag, im obersten Stock von Blackwater Hall. So dünn war sie gewesen, so zerbrechlich – und so mausetot. Aber diese andere Erinnerung war anders – das war nur ein Detail, ein winziges und leicht zu übersehendes Detail. Er überlegte, ob es vielleicht etwas war, das Katya in eben diesem Zeugenstand ausgesagt hatte, während sie wütend ihren ehemaligen Liebhaber auf der Anklagebank anstarrte und restlos von seiner Schuld überzeugt war. Aber er warsich ja nicht einmal sicher, ob ihm nicht seine Fantasie einen Streich spielte und seinen sehnlichsten Wunsch in Erfüllung gehen ließ – den nach einem Schlüssel zur Lösung des Falls –, obwohl ein solcher gar nicht existierte. Das machte ihn nervös, und so nahm er seinen Hut und ging zur Tür.
Beim Heimkommen fand Trave einen Brief auf dem Fußabstreifer. Die Adresse war mit Schreibmaschine getippt, und der Umschlag sah offiziell aus. Er wusste, was drin war, noch bevor er ihn aufgerissen hatte.
Sehr geehrter Mr. Trave,
der Chief Constable bedauert sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Dienstverhältnis bei der Polizei von Oxfordshire hiermit fristlos gekündigt ist. Grund hierfür sind die bei Ihrer Disziplinaranhörung festgestellten groben Verstöße gegen die Dienstvorschrift. Die Frist für die Einlegung eines Einspruchs beträgt zwei Wochen …
Trave nahm sich nicht die Zeit, das Schreiben zu Ende zu lesen. Er zerriss es in kleine Fetzen, warf diese quer durchs Zimmer und öffnete die Whiskyflasche, um sich den größten Rausch seines ganzen Lebens anzusaufen.
Als er am nächsten Tag auf dem Sofa erwachte, schien ihm die Morgensonne direkt in die Augen. Er hatte grauenhafte Kopfschmerzen. Das Telefon klingelte unaufhörlich und machte, dass die Schmerzen sich noch verdoppelten. Es war Creswell.
»Kam der Brief an?«, fragte der Superintendent.
»Oh ja«, sagte Trave, dem übel wurde, als er sich an den Grund für sein Besäufnis erinnerte.
»Es tut mir leid, Bill«, sagte Creswell ziemlich erregt. »Ich habemir alle Mühe gegeben, aber sie wollten einfach nicht auf mich hören.«
»Ich weiß. Das hätte mich auch gewundert.«
»Hören Sie: Sie müssen Einspruch einlegen. Ich werde nicht lockerlassen. Es ist unfair, Sie rauszuwerfen. Das ist viel zu hart.«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Trave. »Irgendwie verspreche ich mir nicht viel davon. Es wäre anders, wenn ich diesen Fall knacken könnte …«
»Hören Sie auf mit dem Unsinn«, sagte Creswell und klang auf einmal richtig wütend. »Ihre sturköpfige Besessenheit von Titus Osman ist doch schuld an der ganzen Misere. Wenn Sie nur ein kleines bisschen einsichtiger gewesen wären …«
»Darin war ich aber noch nie besonders gut, oder?«, sagte Trave. »Hören Sie, Sir, ich bin wirklich dankbar, dass Sie mich anrufen, und ich weiß, Sie wollen mir helfen, aber momentan bin ich irgendwie nicht ganz auf der Höhe.«
»Schon gut. Aber Sie denken über das nach, was ich gesagt habe, ja? Über das Nicht-Aufgeben?«
»Ja«, sagte Trave. »Natürlich.«
Doch als er den Hörer aufgelegt hatte, dachte Trave überhaupt nicht mehr an einen Einspruch. Irgendetwas war ihm beim Aufwachen durch den Kopf geschossen, und er musste sich konzentrieren, um es nicht zu verlieren. Er ging nach oben und stellte sich unter die eiskalte Dusche, bis sein Kopf frei war von Restalkohol und Selbstmitleid. Dann zog er eine alte Gartenhose und einen geflickten Jersey-Pullover an und machte sich eine Kanne Kaffee, die Tote zum Leben erweckt hätte. Er trank eine Tasse, schenkte sich eine zweite ein und setzte sich dann mit dem Protokoll vom ersten Swain-Prozess auf den Knien nieder. Die Seiten hatten mittlerweile Eselsohren und Knicke. Trave schlug die Stelle mit Katyas Aussage auf und begann zu lesen:
Aussage Katya Osman
Zeugin wird vereidigt
STAATSANWALT MR. ARNE
: Sagen Sie dem hohen Gericht bitte, wer Sie sind und wo Sie wohnen.
ZEUGIN
: Ich heiße Katya Osman und wohne mit meinem Onkel in Blackwater Hall.
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