Der König der Diamanten
sie so tun müssen, als sei sie von Swains Schuld überzeugt. Doch im Grunde war sie völlig durcheinander, wie schiffbrüchig auf einem Meer widerstreitender Gefühle. Sie machte einen Spaziergang, genehmigte sich einen Drink, drehte das Radio an – aber nichts half. So sehr sie sich auch anstrengte, gelang es ihr nicht, die Erinnerung an den fensterlosen Gerichtssaal im Old Bailey abzuschütteln, in dem all die fremden Menschen mit höchster Aufmerksamkeit dem lauschten, was sie sagte. Es hatte tatsächlich nur fünf Minuten gedauert, aber das waren die längsten fünf Minuten ihres Lebens gewesen. Auf die bedrückende Förmlichkeit – die Perücken, die Roben, die antiquierte Sprache – war sie nicht vorbereitet gewesen. Außerdem hatte sie keine Vorstellung davon gehabt, wie es ihr gehen würde, wenn sie zum ersten Mal David Swain gegenüberstand,von Angesicht zu Angesicht. Bis zu diesem Tag war er nicht mehr als ein Name für sie gewesen. Jetzt war er echt – ein lebendes, atmendes menschliches Wesen, das nur wenige Meter von ihr entfernt saß, während sie im Zeugenstand redete. Ein junger Mann, der wahrscheinlich nur noch ein paar Wochen zu leben hatte, obwohl er völlig gesund aussah. Man würde ihn vom Galgen stoßen, mit einer schwarzen Kapuze über dem Kopf und den Händen auf dem Rücken. Und dann würde man ihn baumeln lassen. Deswegen war die Zuschauertribüne ja auch bis auf den letzten Platz belegt – aus dem gleichen Grund hatten Exekutionen von jeher große Menschenmassen angelockt: weil der Tod eine Faszination ausübt, die so alt ist wie die Menschheit selbst.
Vanessa hatte noch nie darüber nachdenken müssen, doch jetzt, vor Gericht, wurde ihr klar, dass sie Teil des Geschehens geworden war. Sie gehörte dazu, war mitschuldig, ob es ihr passte oder nicht. Und es schien, als hätte Swain die gleiche Erkenntnis. Die ganze Zeit, die sie im Zeugenstand war, ließ er sie keine Sekunde lang aus den Augen, und sie war nicht in der Lage, das zu ignorieren. Sie musste seinen Blick erwidern, während sie seinem Anwalt antwortete. Er beugte sich so weit vor zu ihr, dass seine Fingerknöchel um die Brüstung weiß wurden. Und dann, als sie nach Beendigung ihrer Aussage an ihm vorbei zu ihrem Platz ging, sah sie ihn tonlos, nur mit einer Bewegung der Lippen, »Danke« sagen, nicht einmal, sondern zweimal.
Jetzt hatte sie ständig sein Gesicht vor sich und konnte nichts dagegen machen. Vielleicht war er schuldig – oder sogar ziemlich wahrscheinlich. Trotzdem konnte man nicht hundertprozentig sicher sein. Bill hatte recht gehabt: Sie war einerseits aus Gewissensgründen nach London gefahren, andererseits aber sehr wohl, weil sie, wie Bill vermutete, nicht von Swains Schuld überzeugt war. Diese Unsicherheit vor ihrem Mann zu verbergen, hatte nur dazu geführt, dass die Zweifel jetzt noch größer waren als vorher. Es waren keine Zweifel gegenüber Titus. Wie ihrem Mann gegenübergeäußert, war sie sich vollkommen sicher, dass er nichts mit dem Mord an seiner Nichte zu tun hatte. Bei Franz Claes war das anders. Sie musste an den kalten, widerwärtigen Gesichtsausdruck denken, mit dem er sie immer wieder ansah, wenn er sich unbeobachtet glaubte – im Rückspiegel des Bentley etwa, oder wenn sie ins Zimmer kam. Und sie wusste, dass er nicht nur sie hasste, sondern alle Frauen, außer vielleicht seine Schwester, und die war ja so unweiblich wie niemand sonst. Wie Claes wohl zu der leidenschaftlichen Nichte von Titus getanden hatte? Als sie anfing, unbequeme Fragen zu stellen und ihre Nase in seine Angelegenheiten zu stecken? Denn Claes hatte ja durchaus Geheimnisse. Das war offensichtlich. Nachdem Vanessa an jenem Abend in Blackwater die Meinungsverschiedenheit mit Titus gehabt hatte, hatte sie sich alle verfügbaren Zeitungen gekauft und gründlich studiert, was Claes am Vortag im Kreuzverhör vorgeworfen worden war. Sie hatte die abgebildeten Fotos seiner Nazi-Freunde betrachtet, die Belgien während der deutschen Besatzung mit eiserner Faust regiert hatten, und die abgehackt klingenen Namen vor sich hingesagt – Ehlers, Asche, Reeder. Sie fragte sich, was Claes all die Jahre gemacht hatte: den Juden geholfen oder sie in den Tod geschickt? Und im Falle des Letzteren – wozu wäre er wohl fähig, um zu verhindern, dass das ans Tageslicht käme?
Hatte Katya etwas über ihn herausgefunden? Hatte er sie deshalb umgebracht und es so arrangiert, als sei Swain es gewesen? Und hatte Katya gewusst, was er
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