Der König der Diamanten
und jetzt konnte David durch die vergitterten Fenster hindurch sehen, wie sie oben im Freizeitraum die Gerüste aufstellten.
»Wie sollen wir denn da reinkommen? Der Zugang zum Freizeitraum ist doch mit Sicherheit verboten, solange sie ihn streichen«, sagte David, indem er sich zu Eddie beugte und quer über den Hof zeigte.
»Ja, aber nicht zum Gebäude selbst. Sie streichen zuerst den Freizeitraum, dann den Trainingsbereich. So habe ich das zumindest gehört, und wenn man darüber nachdenkt, macht es auch Sinn. Der eine ist über dem anderen, und sie wollen ja nicht, dass beide gleichzeitig ausfallen. Wo sollten wir denn sonst hin? Wir müssen uns also beim abendlichen Gruppentreffen nur die Treppe hochschleichen und dann warten, bis alle wieder in ihren Zellen sind.«
»Alle außer uns! Wie zum Teufel sollen wir die Zählung überstehen?«, fragte David mit erhobener Stimme, worauf etliche der umstehenden Häftlinge sich umdrehten und neugierig zu ihnen hersahen. Er konnte kaum glauben, dass er daran nicht schon vorher gedacht hatte. Jeden Abend vor dem Löschen der Lichter gingen die Wärter die Zellen ab, Etage für Etage, und überprüften, ob auch jeder Häftling noch da war. Nur dass er und Eddie dann nicht da wären, sondern sich drüben im Freizeitraum unter einem Abdecktuch verstecken und darauf warten würden, dass man sie erwischte. Wie die Schafe auf der Weide.
»Verdammt noch mal, red leiser!«, sagte Eddie wütend und zog David mit sich auf die Stufen einer Treppe zum B-Flügel. »Menschen haben Ohren, weißt du? Selbstverständlich habe ich an die Zählung gedacht. Glaubst du, ich bin komplett bescheuert? Wir machen uns Attrappen und legen sie in unsere Betten, und dann hauen wir am Wochenende ab, wenn sie unterbesetzt sind. Das Gruppentreffen ist freitags und samstags später, und sie prüfen auch nicht so genau wie sonst.«
»Ja, gut, aber was passiert, wenn sie uns ansprechen, uns irgendetwas fragen?«, hakte David nach.
»Na ja, wir werden schlafen und das Licht schon ausgemachthaben – und hoffen, dass sie uns in Ruhe lassen. Wie ich schon sagte, man braucht Glück, um eine Sache wie diese hinzukriegen.«
David seufzte und ließ im Geiste die letzten paar Jahre Revue passieren. Wenn es etwas gab, das er nie hatte, dann war das Glück.
Entgegen seiner Gewohnheit schlief Eddie an diesem Abend früh ein, doch David warf sich auf seiner Pritsche von links nach rechts und dachte an Katya. Nun, da er sich erlaubte, an ein Entkommen aus diesen Mauern zu denken, war seine Besessenheit von dem Mädchen, das ihn betrogen hatte, noch gesteigert. Die Vorstellung von ihr, in nackter Umarmung mit diesem belgischen Schwein, begann ihn erneut zu verfolgen. Der dürre Staatsanwalt mit den scharfen Augen hatte bei der Verhandlung nicht wissen können, dass er den beiden durch das verschmierte Fenster des Bootshauses zugesehen hatte. Er hatte nur geraten – aber ins Schwarze getroffen. Es war eine Lüge, als David vor Gericht aussagte, er hätte sie nie zusammen gesehen. Aber was hätte er denn tun sollen? Jetzt konnte er sich hinter dieser Lüge allerdings nicht mehr verstecken. Die Erinnerung an jenen Frühlingsnachmittag peinigte ihn. Er sah sie erneut vor sich auf dem Boden, wie wilde Tiere bei der Paarung. Zwei oder drei Sekunden hatte er hingesehen. Nicht länger. Doch auch diese kurze Zeit reichte, um ihn für den Rest seines Lebens zu beschäftigen.
David erinnerte sich, wie er vom Fenstersims zurückgeschreckt und wie blind zum See hinuntergerannt war, wo er auf die Knie fiel und sein Mittagessen in das graue Wasser kotzte. Sie waren direkt hinter ihm, im Bootshaus, fest umschlungen, ja, ineinander verhakt. Genau da, wo Katya sich im Jahr zuvor mit ihm getroffen hatte. Allerdings hatten sie beide sich nicht herumgewälzt wie die Tiere. Geküsst hatten sie sich, Händchen gehalten, aber nicht so etwas. Das war kein Akt der Liebe, sondern des Hasses. Damitsagte sie, dass er nicht existierte. Und es war derselbe Hass, den sie ihm auch im Gerichtssaal entgegenbrachte, als sie voller Eifer die Briefe vorlas und ihm dann zulächelte, nachdem das Urteil gesprochen war und er wie ein Hund abgeführt wurde. Und jetzt erwiderte er diesen Hass. Mit jeder Faser seines Wesens hasste er sie, genauso sehr, wie er sie zuvor geliebt hatte. Sie trampelte auf ihm herum, nahm ihm alles, was er besaß, und jetzt würde sie ihm ins Gesicht sehen müssen und ihm sagen, warum. David wurde ganz plötzlich ruhig,
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