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Der König der Diamanten

Der König der Diamanten

Titel: Der König der Diamanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Tolkien
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kam es beinahe so vor, als könne er zusehen, wie der Verstand des Jungen sich in Bewegung setzte, um seinem Wortschatz einen weiteren wertvollen Ausdruck hinzuzufügen.
    »Willst du einen Schluck Wasser?«, fragte Max und hielt ihm das Glas hin. David ergriff es dankbar mit beiden Händen und trank in großen Schlucken.
    »Wo ist …?« David brach ab, denn er wusste nicht recht, wie er zu seiner Mutter sagen sollte. Doch Max kam ihm zu Hilfe.
    »Ma?«, fragte er. »In der Küche. Sie macht dir was zu essen. Ich habe schon gefrühstückt. Toast mit Marmelade und Cornflakes.« Max zählte die Zutaten auf, als würde er eine Liste machen.
    »Klingt gut«, sagte David und lächelte.
    »Ma«: Die Art und Weise, wie Max das aussprach, ging David ans Herz. Er und dieser eigenartige fremde Junge hatten etwas gemeinsam, etwas Grundlegendes, und einen Moment lang empfand David ein tiefes Gefühl der Verbundenheit zu diesem Halbbruder, den er so gut wie gar nicht kannte. Einen Moment lang fühlte er sich nicht mehr ganz so alleine wie sonst.
    Die besorgte Stimme seiner Mutter holte ihn zurück in die Gegenwart. »Kannst du gehen?«, fragte sie.
    »Ich denke schon«, sagte er und stand vorsichtig auf.
    »Es ist wohl besser, du kommst mit ins Wohnzimmer, damit ich mich um deine Wunde kümmern kann. Dort ist besseres Licht.«
    Er legte sich aufs Sofa, das Sofa, auf dem er immer nach der Schule gesessen und Radio gehört hatte – eine Ewigkeit war das her. Seine Mutter kniete neben ihm und stellte die Blechbüchse, in der sie ihre Medikamente aufbewahrte, neben sich auf den Boden. Die hatte sie schon gehabt, als er noch ein Kind war – mit dem leuchtend roten Kreuz auf dem Deckel der weißen Büchseund vollgestopft mit Bandagen, Heftpflaster und Fläschchen mit seltsamen Bezeichnungen auf dem Etikett. Er erinnerte sich daran, dass die Büchse ihm einerseits immer Angst gemacht, ihm andererseits aber Zutrauen eingeflößt hatte.
    Ganz offensichtlich besaß sie auch für Max eine ungeheure Faszination. Die Augen des Jungen schienen noch größer zu werden, als seine Mutter die Büchse öffnete, aber das war dann auch schon alles, was er zu sehen bekam.
    »Geh und mach deine Hausaufgaben, Max«, sagte sie. »Du hast gehört, was dein Vater gesagt hat.« Widerstrebend gehorchte der Kleine. In der Tür drehte er sich noch einmal kurz um. David hob ein wenig die Hand, um sich zu verabschieden, und der Junge machte wortlos die gleiche Geste.
    »Es scheint, ihr freundet euch ein bisschen an«, sagte Davids Mutter. Das klang nicht sonderlich erfreut, und David spürte deutlich, wie sehr ihr die ganze Sache widerstrebte.
    »Ist das vielleicht verboten?«, fragte er und erhob innerlich die Fäuste.
    »Nein. Aber es ist verboten, aus dem Gefängnis auszubrechen.«
    Sei froh, dass du nicht alles weißt
, dachte David. Er hatte sich fest vorgenommen, nicht über Schmerzen zu klagen, und hielt deshalb die Augen geschlossen, während sie ihm aus der gestohlenen Jacke und dem zerrissenen Gefängnishemd half und mit einem Schwamm das getrocknete Blut von seiner Schulter abwusch.
    »Was ist passiert?«, fragte sie.
    »Man hat auf mich geschossen.«
    »Warum?«
    »Weil ich ausgebrochen bin«, log er. »Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich blute, aber ich habe keine Ahnung, ob die Kugel noch drinsteckt. Kannst du mal nachsehen?«, fragte er, indem er die Fäuste ballte und die Zähne zusammenbiss, um sich gegen den Schmerz zu wappnen, den ihre Finger bei dieser Nachforschung verursachten.
    »Die Wunde ist nur oberflächlich«, sagte sie schließlich. »Die wird schon verheilen, wenn du es ein bisschen ruhig angehen lässt.«
    Er spürte, wie sein Körper sich entspannte, während seine Mutter die Wunde säuberte und einen Verband anlegte. Wenn Claes mit dem zweiten Schuss getroffen hätte, hätte er einen Arzt aufsuchen müssen, und David war sich im Klaren darüber, dass er dies nicht hätte tun können, ohne erwischt zu werden – egal, wie viel Geld sich in seiner Tasche befand. Jetzt hatte er zumindest eine Chance.
    Er schloss die Augen und dachte an die Freiheit, an fremde Städte – an Orte, an denen er noch nie gewesen war, wo niemand ihn kannte und niemand Fragen stellte –, und erwachte schlagartig aus seinem Tagtraum, als seine Mutter seinen Namen rief. Er blickte auf: Ihr Gesicht war voller Wut, aber es war auch Angst darin und ein Anflug von Verzweiflung. Sie hatte seine Waffe in der Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger, als sei sie

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