Der König der Diamanten
mich.«
»Schon gut, ich verstehe das«, sagte Titus und atmete tief ein, um seine Enttäuschung zu verbergen. »Aber sagst du es mir, bevor du irgendetwas unternimmst, Vanessa? Darf ich dich wenigstens darum bitten?«
»Ja, natürlich«, sagte sie. »Wenn du nur wüsstest, wie sehr ich dir helfen will, Titus. Wenn du nur wüsstest …«
Sie brach ab und rang mit dem Gefühl, das sie zu überwältigen drohte.
»Ich weiß«, sagte er. »Du musst es mir nicht sagen. Ich weiß es doch.«
Und während sie Hand in Hand auf dem Sofa saßen und zusahen, wie das Feuer herunterbrannte, wusste Vanessa, dass sie noch nie jemanden so sehr geliebt hatte wie in diesem Augenblick Titus Osman.
Kapitel Zehn
David Swain eilte im Morgengrauen durch die leeren Straßen. Er fror und hatte Hunger, doch keines der Geschäfte oder Cafés, an denen er vorbeikam, hatte schon geöffnet. Die meisten würden heute ohnehin geschlossen bleiben. Sonntag war kein guter Tag, um auf der Flucht zu sein. Und seine Schulter quälte ihn wie nie zuvor – Schmerzstöße jagten durch seinen Arm und ließen ihm die Knie weich werden. So konnte er an nichts anderes denken als an das Haus seiner Mutter. Eine Lösung war das natürlich nicht. Das Ablenkungsmanöver am Bahnhof hatte ihm ein wenig Zeit geschenkt, aber ewig würde die Polizei nicht glauben, dass er nach London gefahren sei. Früher oder später würden sie kommen und an die Tür seiner Mutter klopfen, und sein Stiefvater würde ihn ausliefern, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Denn Ben Bishop hasste ihn, und seine Mutter machte das, was ihr Mann ihr sagte. Das war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass sie ihn kein einziges Mal besucht hatte, seitdem er Anfang des Jahres wieder nach Oxford verlegt worden war. Sie schrieb ihm, schickte sogar ein paar Schokoriegel, aber zu Besuch kam sie nie. Was nutzten ihm Briefe? Gar nichts, außer dass sie im letzten schrieb, Ben würde jetzt mehr Geld verdienen, weil er auch am Wochenende arbeitete und mit seinem Bus der Linie 19 durch Oxfordshire gondelte. Als eine »Anbindung der ländlichen Gegenden« hatte sein Stiefvater diese Tätigkeit wichtigtuerisch bezeichnet, als er vor sieben oder acht Jahren aufgetaucht war, mit schlechtsitzendem Anzug und schiefer Krawatte, und begonnen hatte, sich bei Davids Mutter einzuschmeicheln. Und er war schnell am Ziel, dachte David verdrossen: Binnen eines knappen Jahres war er eingezogen und hatte das Ruder übernommen, um dann Davids Zuhause, so wie er es als Kind gekannt hatte, umzugestalten, alshätte die Vergangenheit nie existiert. Aber sonntags arbeitete er, und Davids Mutter würde nicht anders können, als ihrem Sohn ein paar Stunden lang den Rücken frei zu halten. Mehr brauchte er nicht: genug Zeit, um die Wunde zu versorgen, etwas zu essen, ein bisschen zu schlafen – und schon wäre es wieder so, als sei er gar nicht im Haus gewesen. Ben würde es nie erfahren.
Als David die Abzweigung zur Straße seiner Mutter erreichte, war er völlig erschöpft. Er merkte, wie er von links nach rechts taumelte und sich an Laternenpfosten und Gartenmauern abstützte, als sei er ein Betrunkener nach einem besonders exzessiven Ausflug ins Nachtleben der City. Er sah auf die Armbanduhr: halb sieben. Er würde wohl noch warten und vorsichtig sein müssen – sein Stiefvater war wahrscheinlich noch nicht zur Arbeit gegangen. Er überquerte die Straße, zog aus einem Papierkorb einen
Daily Express
vom Vortag, setzte sich auf eine Bank und hielt sich die Zeitung so vors Gesicht, dass ihn niemand erkennen konnte. Er war so müde, dass er gerade die Überschriften lesen konnte:
USA setzen weiter auf Polaris-U-Boote. Erneut Unterwasser-Zündung von Nuklear-Raketen
. Die Atombombe, immer die Atombombe – der Schatten über ihrer aller Leben. Als er noch jünger war, hatte es Zeiten gegeben, da konnte David an gar nichts anderes denken. Er hatte die Aufnahmen von Hiroshima und Nagasaki gesehen und gelesen, was nach dem Abwurf der Bomben auf die ahnungslosen Japaner geschehen war. Die Angst vor den Russen hatte dafür gesorgt, dass er unzählige Nächte wach lag und an die Anführer des Politbüros denken musste, die mit dicken Pelzmützen auf der Kreml-Mauer standen und mit ihren undurchdringlichen slawischen Gesichtern zusahen, wie am 1. Mai die Panzer vorbeirollten. Einen Moment lang wünschte er sich jetzt allerdings beinahe, dass es Krieg gäbe – einen Krieg, der alles auslöschen und nichts übriglassen
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