Der König der Diamanten
ein verseuchter Gegenstand, und er merkte, wie dumm es von ihm gewesen war, den Ordnungssinn seiner Mutter zu vergessen, ihre Angewohnheit, Dinge immer aufzuhängen.
»Gib mir die Waffe«, sagte er. »Die brauche ich.«
»Nicht in diesem Haus. Wissen die, dass du bewaffnet bist?«
»Ja.«
»Hast du sie benutzt?«
»Nein. Ich schöre es«, antwortete er beinahe schreiend, als er ihren ungläubigen Gesichtsausdruck bemerkte. Doch auch der Nachsatz bewirkte nicht, dass ihr ernstes Gesicht sich entspannte.
»Es spielt eigentlich auch keine Rolle, was du damit gemacht hast. Da sie wissen, dass du eine hast, werden sie dich erschießen, sobald sie eintreffen. Und mich ebenso. Und Max. Er ist gerade mal sechs Jahre alt. Das scheint dir völlig egal zu sein, oder? Warum bist du hergekommen, David? Warum?« Ihre Stimme klang immer erregter.
»Wo hätte ich denn sonst hin sollen? Ich hab doch gesagt, ichbleibe nicht. Nur etwas essen und ein paar Stunden Schlaf, und schon bin ich wieder weg, das verspreche ich dir. Und heute kommen die sicher nicht hierher. Die glauben, ich bin nach London. So hab ich es aussehen lassen am Bahnhof. Ich bin dein Sohn. Ist dir das vollkommen gleichgültig?«
Sie musterte ihn eingehend und sah dann auf die Messinguhr, die auf dem Kaminsims vor sich hintickte.
»Ben arbeitet am Wochenende halbtags, das heißt, du kannst bis eins hierbleiben«, sagte sie. »Aber keine Minute länger. Und die bleibt so lange hier drin, bis du abhaust«, ergänzte sie, indem sie die Waffe in der obersten Schublade der alten Kommode in der Ecke verstaute, in der sie ihre Unterlagen aufbewahrte. »Ich bringe dir was zum Anziehen und mache dir was zu essen.«
Am Tisch saß er an demselben Platz, an dem vor einer halben Stunde sein Stiefvater sein Frühstück beendet hatte. Ein viel zu großes Hemd und eine Strickjacke aus Ben Bishops Besitz hingen an ihm herunter wie an einer Vogelscheuche, aber die waren immer noch besser als das zerrissene, blutige Hemd. Und das Frühstück war einfach wunderbar. Er musste sich anstrengen, um nicht zu schnell zu essen. Bis zu diesem Moment hatte David gar nicht bemerkt, wie ausgehungert er war.
Seine Mutter stand in der Küchentür und sah ihm schweigend zu, während sie eine weitere Zigarette rauchte. Es war, als würde sie sich selbst nie erlauben, in der endlosen, selbstauferlegten Abfolge des Kochens, Saubermachens und Wäschewaschens auch nur für einen Moment innezuhalten, weil sonst … Was sonst? Die Welt untergehen würde? Der Fall, dachte David grimmig, würde ja wahrscheinlich ohnehin eintreten, wenn man den Schlagzeilen glaubte.
»Vielen Dank«, sagte er, als er fertig war. »Das war das beste Essen, das ich je hatte.« Und das war nicht übertrieben.
Sie ignorierte das Kompliment. Ihrem Gesicht war nicht anzusehen, was in ihr vorging. Sie schien nicht mehr ängstlich oderwütend zu sein, aber er spürte eine Distanz zwischen ihnen beiden, die er offenbar nicht überbrücken konnte.
Er sah hinüber zum Kaminsims. Das Foto seiner Eltern bei ihrer Hochzeit sowie das von ihm selbst als Junge, etwa so alt wie Max jetzt, waren längst verschwunden.
»Fehlt er dir?«, fragte er.
»Wer?«
»Daddy. Es ist, als sei er nie hier gewesen.«
»Nein«, sagte sie und ging dabei nur auf die Frage ein, nicht den Kommentar.
»Warum?«
»Weil er wie du war: stets voller Ideen, aber nie bereit, sich auf etwas einzulassen. Mit Ideen kann man keine Rechnungen zahlen«, sagte sie entschieden.
»Ganz im Gegensatz zu Ben, nicht? Der hat in seinem Leben vermutlich noch keine einzige Idee gehabt.«
»Er ist zuverlässig«, sagte sie, ohne auf die Spitze einzugehen.
David nickte. Ihm war schon klar, was seine Mutter meinte. Sie hatte es mit Sicherheit nicht leicht gehabt all die Jahre, immer die Angst vor Schulden und einer Zwangsräumung im Nacken. Wobei gesagt werden musste, dass es dem Alten gegen Ende besser ging, mit seinem Ein-Mann-Unternehmen und dem weißen Laster mit der Aufschrift
Spark’s Electrics
. In dem hatte er auch seinen Herzinfarkt, auf dem Weg zu einem Job in Abingdon. »Ohne Schmerzen«, hatte ihnen der Arzt im Krankenhaus versichert. »Und mit Dusel obendrein – er stand nämlich im Stau.«
»Gibst du mir eine Zigarette?«, fragte David. Seine Mutter reichte ihm das Päckchen und steckte sich selbst auch noch eine an. Der beißende Rauch fühlte sich gut an in der Lunge, und die gemeinsame Zigarette ließ für einen Moment die Kluft zwischen ihnen
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