Der König der Diamanten
hinuntergerannt.
Nun gab er sich Mühe, mit seinen dürftigen Vorräten auszukommen, doch ohne Kühlschrank und Kochgelegenheit war das nicht so einfach. Die immergleichen geschmacklosen Sandwiches und Wurstbrötchen gaben ihm den Rest. Mit täglich zunehmender Inbrunst dachte er an das Frühstück seiner Mutter am Morgen nach seiner Flucht, und selbst bei dem Gedanken an den miserablen Gefängnisfraß wurde er sentimental. Doch momentan war die Furcht stärker als der Hunger, und den Besuch eines Cafés oder Restaurants wollte er einfach nicht riskieren.
Bis jetzt hatte er ohnehin Glück gehabt. Das wusste er. Er warpanisch vom Haus seiner Mutter weggefahren, ohne einen Plan, wohl wissend, dass er nicht allzu lange im Wagen bleiben konnte. Jeder Polizist von Oxford würde nach ihm Ausschau halten, nachdem Ben die Polizei angerufen und die Autonummer durchgegeben hätte. Deshalb war er wie ein Wahnsinniger in den Vororten herumgefahren und hatte Ausschau nach irgendetwas gehalten, das sich zum Abtauchen eignete. Doch er fand nichts, bis er irgendwann zufällig von der Botley Road abbog und in einer unauffälligen Seitenstraße namens Parnell Avenue landete, wo er vor dem
Bella Vista Hotel
eine Vollbremsung hinlegte. Das Haus war weder »bella«, noch hatte es so etwas wie eine »vista«. Es war heruntergewirtschaftet und benötigte dringend einen neuen Anstrich, und wenn man über die Straße blickte, sah man dort eine Baustelle und daneben ein Stück Brachland. Doch für seine Bedürfnisse war es wie gemacht, zumal der Mann an der Rezeption beinahe im Halbschlaf lag und keinen Ausweis mehr sehen wollte, nachdem David sein Bündel Geldscheine herausgezogen und zwei Wochen im Voraus bezahlt hatte.
Oben hatte er dann gesessen und auf den Einbruch der Nacht gewartet, um im Schutz der Dunkelheit den Ford Anglia zum Bahnhof rüberzufahren und auf dem Parkplatz abzustellen, dort, wo sie wenige Nächte zuvor mit Herzklopfen bis zum Hals in den roten Triumph eingestiegen waren. Schließlich war er durch menschenleere Seitenstraßen zum Hotel zurückmarschiert. Und seitdem war er hier, auf dem Bett, starrte die Wand an, kaute fade Sandwiches, lauschte dem Radio.
Vor zwei Tagen hatte er in den Nachrichten gehört, dass Eddie in London geschnappt worden war. Das hatte ihn schockiert. Als Nächstes wäre er dran, so viel war sicher – es sei denn, ihm fiele etwas ein. Aber ihm fiel nichts ein, sosehr er sich auch bemühte. Dabei hatte er immer noch die Waffe. Seine Mutter hatte zwar gesagt, er solle sie loswerden, aber trotzdem hatte er sie behalten. Er wollte auf keinen Fall, dass sie ihn lebendig einfingen, denn ihmwar klar, was sie mit ihm machen würden. David machte sich nichts vor. Es würde eine Anklage geben, dann einen Prozess, dann ein Urteil, alles wie gehabt, doch diesmal würden sie ihn nicht für den Rest seines Lebens hinter Gitter stecken. Nein, sie würden ihn wie einen Truthahn verschnüren und ihn an einen Balken hängen, ihm mit dem Ruck einer Henkersschlinge den Hals brechen. Das war die gesetzliche Strafe für das Töten mit einer Waffe, und David wusste, dass er diesmal keine Gnade finden würde. Für einen zweiten Mord würde er definitiv baumeln.
Der Strick. David hatte jede Nacht Alpträume, wachte irgendwann keuchend auf, rang nach Luft und stieß unsichtbare Männer mit schwarzen Masken von sich. Und wenn er dann Licht machte und sich an sein rasendes Herz fasste, erblickte er auf dem Nachttisch Robbie, den Roboter, der ihn mit seinen vorgewölbten Augen ansah, und auf einmal wusste er wieder, wo er war.
David dachte oft an seinen Halbbruder. Es verschaffte ihm eine eigenartige, aber doch intensive Ruhe, zu wissen, dass dieser kleine Junge mit seiner viel zu großen Brille und seiner ungemein ernsthaften Sicht der Dinge sich nur wenige Meilen entfernt von ihm aufhielt und seine Spielsachen in dem Zimmer arrangierte, das ihm gehört hatte. Und war nicht der Moment, als Max ganz am Schluss aus dem Haus kam und Robbie, den Roboter, in den ausgestreckten Händen hielt, der schönste in seinem ganzen, armseligen Leben gewesen? Wie viele solcher Momente würde er wohl noch erleben?
Die Quiz-Sendung, der er mit einem Ohr zugehört hatte, war mittlerweile vorbei, und jetzt sang Frank Sinatra: »New York, New York …« David fühlte sich verwirrt und suchte einen neuen Sender. Er hatte immer nach New York gewollt, um von den Wolkenkratzern aus hinunterzusehen, doch jetzt schien das etwa so
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