Der König Der Komödianten: Historischer Roman
Niedliches kleines Ding. Konnte ihr nicht abschlagen, dein Seelenheil zu stärken. Tut mir wirklich sehr leid für dich, mein Junge. Vielleicht hilft es dir ja in deinen letzten Lebenstagen.«
Und schon war er wieder davongestiefelt. Letzte Lebenstage? Was hatte das zu bedeuten? Dass ich des Todes war? Hatten sie herausgefunden, dass ich gar nicht der echte Contarini war, sondern nur ein Betrüger, der sich anmaßte, sein Doppelgänger zu sein, und daher überflüssig war?
Ich umklammerte mit der freien Hand einen Gitterstab. »Ich will den Prokurator sprechen!«, schrie ich. Irgendwo hatte ich gehört, dass Prokuratoren die mächtigsten Beamten in Venedig waren.
»Warum nicht gleich den Dogen?«, fragte Nummer elf. Es klang beleidigt. Offenbar war er noch verärgert, weil ich mein Geld nicht verwetten wollte. »Was hast du da für ein Buch? Ah, ich sehe es! Eine Bibel! Und was meinte der Kerl mit deinen letzten Lebenstagen? Das hört sich übel an.«
»Sehr übel«, murmelte ich, an der Wand zu Boden rutschend, von rabenschwarzer Verzweiflung übermannt. Eine Weile saß ich benommen da, bevor ich, immer noch innerlich erstarrt, das Buch aufklappte. Die ersten paar dutzend Seiten waren tatsächlich Passagen aus dem Alten Testament, sodass der Band einer oberflächlichen Überprüfung leicht standhielt. Erst danach folgten, geschickt im selben Schriftbild gestaltet, die Texte von Boccaccio, Petrarca und Dante.
Trotz meiner Furcht vor dem mir zugedachten Schicksal war ich zutiefst gerührt, dass Elena mir auf diese Weise Trost spenden wollte. Zugleich wallte eine der Situation unangemessene Erregung in mir auf, weil ich mich nur zu gut daran erinnerte, wie ich zum ersten Mal mit diesem Buch in Berührung gekommen war.
Und vermutlich zum letzten Mal.
Tränen des Selbstmitleids brannten mir in den Augen,während ich in dem Band blätterte, mich lesend den vertrauten Versen von Petrarca hingab sowie den freizügigen Beschreibungen Boccaccios und den bestrickend klangvollen Reimen von Dante. Vor allem Dante erfasste mit seinen Formulierungen wunderbar treffend, wie mir zumute war. Nun erst konnte ich nachempfinden, wie es sich anfühlte, in der Hölle zu sein. Auf der ganzen Welt gab es nichts Schlimmeres als diesen Kerker des Grauens, in den es mich verschlagen hatte!
»Du bist ein guter Junge«, flüsterte es an meinem Ohr. Nummer zehn war dicht an mich herangekrochen und legte mir den Arm um die Schultern. »Willst du mir vielleicht was vorlesen?« Er lächelte mich gewinnend an und zerquetschte gleichzeitig eine Laus, die auf seiner Stirn herumkrabbelte.
Ich hatte mich getäuscht. Es gab doch Schlimmeres.
Nach dem Mittagsmahl, das aus säuerlichem Kohl bestand, musste ich zu meiner Beschämung im Beisein aller den schon ziemlich vollen Kübel benutzen. Mittlerweile fühlte ich mich genauso, wie die anderen Zelleninsassen auf mich wirkten: verdreckt, verlaust und mit einem Gestank behaftet, als hätte ich zeitlebens in Latrinen gehaust.
Nicht einmal mehr das Buch vermochte mich von meinem Elend abzulenken.
Mechanisch und ohne etwas zu lesen, blätterte ich herum – und stutzte. Auf einer der unbedruckten Rückseiten befand sich eine handschriftliche Notiz, die, wie ich rasch erkannte, von Baldassarre verfasst sein musste.
Die Pestilenz ist überall in der Stadt. Auch aus dem Gefängnis werden täglich Leichen geholt. Der Gestank des Todes ist unerträglich, ich sehne mich schmerzlicher denn je nach einem schönen heißen Bad. Letzte Nacht sind zwei Männer in dieser Zelle gestorben, sie liegen noch hier, weil das nächste Sammelboot erst nach der Terzkommt. Alle fragen sich, wen die Seuche als Nächsten holt! Einer glüht schon vor Fieber, und an seinem Hals bilden sich die Beulen – der arme Kerl, er wird vermutlich die bevorstehende Sensa nicht mehr erleben.
Ich selbst fürchte die Krankheit nicht, da ich sie bereits als Knabe überlebte, doch von den anderen kann es jeden treffen, daher ist die Angst unter ihnen groß. Sie lassen mich Abschiedsbriefe für ihre Familien schreiben und haben den Wärter bestochen, mir dafür Tinte und Papier zu geben. Die Wächter sind gnädig in diesen Tagen, deshalb bekam ich auch meine Bibel, die Camilla für mich brachte und die mir in dieser dunklen Zeit mehr als nur frommen Trost spendet. Nun hoffe ich, dass sie mich bald freilassen, denn wie ich hörte, ist der Kaufmann vorgestern an der Pest gestorben, und außer ihm hat derzeit meiner Einschätzung nach
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