Der König Der Komödianten: Historischer Roman
sagte, die schönste und begehrenswerteste Frau auf der Welt.« Rodolfo holte tief Luft, dann fuhr er beklommen fort: »Darauf schrie sie mich an, ob ich etwa pervers veranlagt sei.«
Bernardo ließ ein schmerzverzerrtes, aber erkennbar schadenfrohes Geräusch hören. »Wer würde denn auf diese Idee kommen? Ich meine, was um alles in der Welt hat es mit Perversion zu tun, wenn ein Mann einer Frau einen Heiratsantrag macht, die zufällig doppelt so groß ist wie er?« Ein prustendes Lachen entwich ihm, und in diesem Augenblick hätte ich gern den Schemel ergriffen und ihn ein zweites Mal in Bernardos empfindliche Teile gerammt.
»Rodolfo«, sagte Cipriano teilnahmsvoll. »Bestimmt hat sie es nicht so gemeint …«
Rodolfo schüttelte den Kopf. In seinen Augen standen Tränen, als er sich mit einem Ruck abwandte und aus der Küche marschierte. Die Absätze seiner Capitano-Stiefel hallten auf dem Steinboden des Flurs, als er davonstapfte – in entgegengesetzter Richtung wie Franceschina.
Den Rest des Tages gingen sich Rodolfo und Bernardo aus dem Weg, und auch Franceschina kam nicht mehr aus ihrer Kammer. Wer etwas zu essen haben wollte, musste sich in der Küche selbst versorgen. Zum Glück waren ausreichend Vorräte vorhanden.
Die übrigen Incomparabili ließen sich ebenfalls kaumblicken. Wenn sie auftauchten, wirkten sie bedrückt und sprachen mit gesenkten Stimmen, etwa Cipriano, Caterina und Elena, die ich um die Mittagsstunde herum im Innenhof stehen und reden sah, ebenso wie später Baldassarre und Iseppo beim Athanor. Der Alte war auf ein Schwätzchen heruntergekommen, nur um zu erfahren, dass der Hausfrieden gründlich schiefhing.
Ich selbst drückte mich mehr oder weniger den ganzen Tag in meiner Kammer herum und versuchte, wenigstens eine neue Szene zu Papier zu bringen. Dafür hatte ich mir einen Streit zwischen dem Capitano und Flavio ausgedacht, angezettelt von Flavio, weil er glaubt, der Capitano habe es auf seine Liebste abgesehen, während dieser längst für Colombina entflammt ist. Colombina hingegen unterstellt dem armen Capitano unlautere Absichten und lässt ihn stehen.
Mehrfach entwarf ich die Szene neu und versuchte, sie in den Fluss der Handlung zu integrieren, doch nahm sie sich in jeder Variante wie ein Fremdkörper aus – sie wollte sich einfach nicht sinnfällig einfügen.
Aus den Gesprächen mit Bernardo und Baldassarre wusste ich, dass es keine überflüssige Szene geben durfte. Jede einzelne hatte nicht nur mit der gesamten Geschichte in Zusammenhang zu stehen, sondern musste auch logisch auf der vorhergehenden Szene aufbauen und zugleich die nachfolgende schlüssig vorbereiten. Immer mussten wichtige Einzelheiten enthalten sein, die für den Inhalt des ganzen Stücks wesentlich waren. Baldassarre hatte hierzu eine einleuchtende Regel formuliert: Konnte man eine Szene einfach streichen, ohne dass es dem Fortgang der Handlung schadete, so war sie überflüssig. Punktum. Ausnahmen waren nur gestattet, wenn Lieder gesungen oder Lazzi dargeboten wurden, die waren als zusätzliche Garnierung des Stücks zulässig.
Nach einer Weile gab ich es auf und las wieder im Decamerone. In allen Einzelheiten malte ich mir aus, wie ich zu Elena ins Bett kroch, sodass ich, als endlich die Schlafenszeit kam, inhöchstem Maße erregt war und kein Auge zubekam. Stundenlang lag ich wach und lauschte auf Iseppos Schnarchen sowie auf die Geräusche des Hauses und des vorbeifließenden Kanals. Hier und da knackte es im Gebälk, ständige Begleitmusik in einem Gebäude, das wie alle anderen in Venedig auf zahlreichen Eichenpfählen erbaut war. Diese Holzbalken bildeten, tief in den Schlamm der Lagune gerammt, das tragende Element aller Bauten der Stadt. Manche der größten Kirchen mitsamt ihren hoch aufragenden Türmen ruhten gar auf Millionen von Stämmen, wie gigantische steinerne Schiffe, fest verankert mit dem Meeresgrund, im Wechsel von Ebbe und Flut von den Wassern der Lagune umspült.
Ja, diese Stadt war wirklich ein Wunder, ein riesiger Schmelztiegel all dessen, was die Welt bedeutsam und bemerkenswert machte. Noch vor wenigen Monaten war Venedig das Ziel all meiner Träume gewesen. Nun war ich hier, hatte fast alle Winkel erkundet und atmete beständig die Luft dieses von Vielfalt überbordenden Orts. Warum hielt sich dann nur in meinem Inneren so hartnäckig die Sehnsucht nach etwas anderem?
Mein Kissen umklammernd, horchte ich in mich hinein und versuchte dieser Sehnsucht nachzuspüren,
Weitere Kostenlose Bücher