Der König der Lügen
sind, sagen Sie mir, wo. Rufen Sie mich auf dem Handy an.«
»Ich glaube, ich kann nicht einfach herumsitzen.« Ich suchte nach Worten, um auszudrücken, was ich empfand. Es war schwierig. »Ich will mich nicht mehr verstecken.«
»Vierundzwanzig Stunden, Work. Sechsunddreißig höchstens.«
»Es gefällt mir nicht.« Ich wollte die Wagentür schließen.
»Hey«, sagte Hank. Ich drehte mich noch einmal um. »Verschwenden Sie keine Zeit zu Hause, okay? Gehen Sie rein und wieder raus. Könnte sein, dass Mills Sie schon sucht.«
»Ich verstehe«, sagte ich und sah ihm nach, als er wegfuhr.
Ich stieg in den Minivan und fuhr nach Hause. Ich betrachtete die hohen Wände, deren einstmals weiße Farbe erst grau geworden und dann abgeblättert war. Barbara hatte immer gesagt, das Haus habe gute Knochen, und sie hatte recht. Aber es hatte kein Herz — nicht, solange wir darin wohnten. Anstelle von Lachen, Vertrauen und Freude gab es da nur eine hohle Leere, eine Art Fäule, und ich staunte über meine Blindheit. War es der Alkohol, fragte ich mich, der es erträglich gemacht hatte? Oder war es etwas anderes, irgendein inneres Versagen? Vielleicht weder das eine noch das andere. Es heißt, wenn man einen Frosch in kochendes Wasser wirft, springt er sofort heraus. Setzt man denselben Frosch jedoch in kaltes Wasser und macht es langsam heiß, bleibt er still sitzen, bis sein Blut siedet. Er lässt sich bei lebendigem Leib kochen.
Daran musste ich denken, und dann dachte ich über das nach, was Hank gesagt hatte. Er hatte das Herz am rechten Fleck. Den Kopf übrigens auch. Aber ich konnte nicht in ein Motel gehen. Ich konnte mich nicht verstecken, und ich konnte nicht so tun, als würde das alles einfach vorbeigehen. Wenn Mills hinter mir her war, dann war sie hinter mir her. Und Alex auch.
Geschehen ist geschehen, dachte ich und ging ins Haus.
Barbara war in der Küche, stand unschlüssig drei Schritte weit von der Tür entfernt, als wäre sie erstarrt oder wollte sich gerade abwenden. Einen Sekundenbruchteil lang sah es aus, als zerflössen ihre Gesichtszüge, dann öffnete sich ihr Mund zu einem halben Lächeln, und sie lief mir entgegen. Ich stand da, steif und mit hängenden Armen, als sie mir um den Hals fiel und mich an sich drückte.
»Oh, Work. Oh, Honey, es tut mir so leid, dass ich dich nicht vom Gefängnis abgeholt habe. Ich konnte es einfach nicht.« Die Worte kamen hastig aus ihrem übereifrigen Mund, und es war beunruhigend, Barbara an meinem vom Knaststaub schmutzigen Hals zu fühlen. Sie wich zurück und umfasste mein Gesicht mit beiden Händen. Ihre Worte gewannen Tempo wie auf einem schlüpfrigen Gleis, sie überstürzten sich, gerieten ins Stolpern und Fallen, weich und zu süß — wie Schokolade, die in der Sonne gelegen hat. »Die Leute sehen mich an, weißt du«, sagte sie, »wie Leute einen manchmal ansehen. Und ich weiß, was sie denken. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, nichts im Vergleich zu dem, was du durchmachen musstest, natürlich nicht, aber weh tut es trotzdem. Und ich konnte da nicht hingehen, nicht zum Gefängnis, ich konnte dich nicht so sehen. Ich wusste einfach, es wäre nicht gut für uns. Ungesund, weißt du? Als dein Mr. Robins kam, habe ich ihn deshalb gefragt, ob er dich abholen kann. Ich hoffe, das war okay. Ich hab's jedenfalls gedacht. Aber dann bist du nicht nach Hause gekommen und hast nicht angerufen, und da wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte.« Sie sog die Luft durch die Zähne. »Es gab einfach so vieles, was ich dir sagen wollte, und dass ich das nicht konnte, ja, das war ungefähr das Schlimmste.«
Sie schwieg, und als ich nicht reagierte, blühte Beklommenheit zwischen uns auf. Sie nahm die Hände von meinem Gesicht, ließ sie auf meine Schultern sinken und drückte sie zweimal, bevor sie sie fallen ließ. Dann umklammerten sie den Stoff ihrer Bluse über der Brust und blieben dort, und die Fingerknöchel waren weiß.
»Was war es denn?«, fragte ich. Sie war verblüfft, als hätte sie nicht erwartet, dass ich doch noch antwortete. »Was war es denn, was du mir sagen wolltest?«
Sie lachte, aber das Lachen war zu klein geboren und starb eine Sekunde später. Sie öffnete die Faust und rieb mir die rechte Schulter, ohne mir ins Gesicht zu sehen.
»Du weißt schon, Honey. Hauptsächlich einfach, dass ich dich liebe. Dass ich an dich glaube. Solche Sachen halt.« Endlich riskierte sie einen Blick in mein Gesicht. »All das, wovon ich hoffte, dass
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