Der König der Lügen
Vater geschaffen hatte. Jean brach zusammen, als mein Vater sie losließ. Er starrte seine Hand und dann mich an.
»Es war ein Unfall, Junge. Das siehst du doch, oder, Sohn?«
Ich schaute ihm in die Augen, sah zum ersten Mal, dass er mich brauchte, und fühlte, wie ich nickte. Es war ein unwiderruflicher Schritt. »Braver Junge«, sagte er. Dann verschwand der Boden unter meinen Füßen, und ich fiel in den tiefen Schacht des Selbsthasses.
Und ich bin noch nicht unten angekommen.
Hätten sie Ezra mit nur einer Kugel im Kopf gefunden, hätte ich es Selbstmord genannt. Wie sonst hätte er mit der Wahrheit seines Tuns umgehen sollen? Doch zugleich kann die größte Sünde die der Unterlassung sein; das war die Bürde, die ich zu tragen hatte, und ihr Preis waren das Leben meiner Mutter und meine unsterbliche Seele. Ich war dafür verantwortlich, Jean zu beschützen. Ich kannte die Schwäche meiner Mutter, wie ich die Wut meines Vaters kannte. Wortlos hatte sie mich beschworen einzugreifen, hatte mich angefleht, wie nur die Schwachen flehen können. Ich weiß nicht, warum ich nichts unternahm, aber ich fürchte, meine Seele trägt den Makel einer tragischen Schwäche, geboren unter meinem Vater. Denn es war nicht die Liebe zu ihm, die mich zurückhielt, niemals die Liebe. Aber was dann? Ich habe es nie gewusst, und die Frage verfolgt mich bis heute. Und so lebe ich seitdem mit meinem Versagen und schlafe mit der Erinnerung an einen wirbelnden Tanz über den rubinroten Teppich der Treppe.
Jean war beinahe besinnungslos, als es passierte. Sie konnte nie mit Sicherheit sagen, was geschehen war, aber sie ahnte es, und in meinen Augen sah sie die Lüge, die Ezras Wahrheit geworden war. Als ich gefragt wurde, sagte ich, Mutter sei ausgerutscht. Sie habe versucht, einen Streit zu schlichten, und sei dabei ausgerutscht. Wie so etwas eben passiere.
Warum ich meinen Vater deckte? Weil er mich darum gebeten hatte, nehme ich an. Weil er mich zum ersten Mal brauchte. Weil ihr Tod tatsächlich ein Unfall war, und weil ich ihm glaubte, als er sagte, dass aus der Wahrheit nichts Gutes herauskommen könne. Weil er mein Vater war und ich sein Sohn. Vielleicht weil ich mir selbst die Schuld gab. Wer zum Teufel weiß das schon?
Die Polizei stellte ihre Fragen, und ich sprach die schrecklichen Worte, und so wurde Ezras Wahrheit zu meiner eigenen. Aber der Bruch zwischen mir und Jean war irreparabel; er wurde zu einem Abgrund, und sie zog sich in ihr Leben auf der anderen Seite zurück. Ich sah sie bei der Beerdigung, wo die letzte Schaufel Erde den Sarg unserer Mutter ebenso bedeckte wie unsere Beziehung. Sie hatte Alex, und das genügte ihr.
Gegen Mitternacht am Todesabend meiner Mutter war die Polizei gegangen. Wir folgten dem verdunkelten Krankenwagen, weil wir nicht wussten, was wir sonst tun sollten. Am Hintereingang des Krankenhauses verließ sie uns; Fremde trugen sie in das fahle, stille Gebäude und brachten sie in den kalten Raum, wo die Toten schweigend warten. Wir standen im leichten Novemberregen, standen sprachlos zu dritt unter einer Straßenlaterne und der Last unserer Gedanken. Die Wahrheit über ihren Tod lag auf unseren Schultern, und wir konnten einander nicht in die Augen sehen. Aber ich betrachtete meinen Vater, wenn ich konnte, und beobachtete das Spiel der Tropfen auf seinem Gesicht, die Anspannung der Muskeln unter dem Schnurrbart, der im Licht weiß schimmerte. Und als die Worte schließlich kamen, kamen sie von Ezra, wie ich es vorausgeahnt hatte. »Lasst uns nach Hause gehen«, sagte er, und wir verstanden. Es gab sonst nichts zu sagen.
Zu Hause brannte das Licht, und wir saßen im Wohnzimmer. Ezra schenkte Drinks ein. Jean rührte ihren nicht an, aber meiner verschwand wie durch Zauberei, und Ezra schenkte mir nach. Jeans Hände ballten sich zu Fäusten und lösten sich wieder, sie rangen miteinander auf ihrem Schoß, und ich sah helle Halbmonde, wo die Nägel sich in ihre Handflächen bohrten. Sie wiegte sich kaum merklich vor und zurück, angespannt wie eine Uhrfeder, und manchmal hörte ich sie leise wimmern. Ich streckte die Hand nach ihr aus, aber sie zuckte zurück. Ich wollte ihr sagen, dass ich nicht Ezra war. Nicht, dass es etwas geändert hätte. Das weiß ich heute.
Niemand sprach, und die Minuten zogen sich in die Länge. Man hörte nichts als die Eiswürfel im Glas und Ezras schwere Schritte beim Auf- und Abgehen.
Wir alle fuhren zusammen, als das Telefon klingelte. Ezra nahm den Hörer
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