Der König der Lügen
vorübergehend betrachtet. Doch wenn das stimmte, war es wirklich ein sehr kleiner Teil meiner selbst. Bis zu diesem Augenblick war mir alles ganz normal erschienen. Aber ich wusste, innerhalb von fünf Minuten könnte ich aus diesem Büro ausziehen, und es wäre, als hätte es die letzten zehn Jahre nie gegeben. Der Raum würde kaum anders aussehen. Wie eine Gefängniszelle, dachte ich. Das Gebäude würde mich nicht vermissen, und ein Teil meiner selbst hätte den Laden am liebsten abgefackelt. Was konnte das jetzt noch ausmachen? Eine Zelle war so gut wie die andere.
Man müsste ein paar Bilder an die Wand hängen, dachte ich, und dann rief ich auf der Stolen Farm an. Ich redete mir ein, ich wolle mich entschuldigen und noch einmal versuchen, die Vergangenheit richtigzustellen, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Ich musste ihre Stimme hören. Ich wollte hören, wie sie sagte, dass sie mich liebe. Nur noch ein einziges Mal.
Niemand meldete sich.
Als ich mich auf den Weg zum Gericht machte, hatte der Himmel sich zugezogen. Schwere Wolken kündigten Regen an. Sie drückten mich nieder, und ich ging gebeugt, als ich das Gericht betrat. Ich hatte damit gerechnet, dass man mich anders behandeln würde, als wüsste jeder Bescheid, doch so war es nicht. Ich hatte mir in düstersten Farben ausgemalt, wie man mich öffentlich meiden würde, aber am Ende war es ein ganz normaler Gerichtstag. Schweigend saß ich da, während die Termine verlesen wurden, und ich sprach, als meine Fälle aufgerufen wurden: ein minderes Schuldbekenntnis, ein Antrag auf Verhandlung. Dann ging ich hinaus in das Gedränge auf dem Flur, um mit meinen Mandanten zu sprechen.
Es waren kleine Fälle, geringfügige Delikte; ich musste einen Blick in die Akten werfen, um mich daran zu erinnern, was man meinen Mandanten zur Last legte. Typischer Montagskram nur einer war vielleicht unschuldig. Seinen Fall wollte ich verhandeln lassen.
Wir standen im kalten Tabaksgeruch neben der Ausgangstür, und ein Mülleimer diente mir als Schreibtisch. Zuerst nahm ich mir den vor, der sich minderschuldig bekennen sollte. Er war dreiundvierzig Jahre alt, übergewichtig und geschieden. Er nickte zwanghaft, während ich redete; seine Unterlippe hing schlaff vor den tabakfleckigen Zähnen, und sein Hemd war schon jetzt von eklig süßem Schweiß durchtränkt. »Angstschweiß« nennt man so etwas. Ich erlebte es jeden Tag. Für die meisten war das Strafgericht ein exotischer Ort, den sie niemals zu sehen bekommen würden. Dann plötzlich war er real, und sie hörten, wie in diesem Raum vor lauter Kriminellen, bewaffneten Gerichtsdienern und dem Richter, der mit starrem Gesicht über allem thronte, ihr Name aufgerufen wurde. Gegen Mittag erfüllte der Gestank den Flur und noch mehr den Gerichtssaal. An diesem Tag standen fünfhundertvierzig Fälle auf der Tagesordnung, ein Mikrokosmos von Gier, Zorn, Eifersucht und Wollust. Nehmen Sie irgendeine Gefühlsregung, und Sie finden ein Verbrechen, das sie verkörpert. Und sie wogten um uns herum, ein grenzenloses Meer, und jeder suchte seinen Anwalt, seinen Zeugen oder seine Liebste. Manche wollten auch nur rauchen, um die Zeit totzuschlagen, bis ihr Fall aufgerufen wurde. Viele waren so oft durch dieses System gelaufen, dass es ein alter Hut für sie war. Anderen, wie meinem Mandanten, brach der Angstschweiß aus.
Er war angeklagt wegen tätlichen Übergriffs auf eine Frau, ein Kleindelikt erster Ordnung an der Grenze zur Straftat. Er wohnte einer sehr attraktiven jungen Frau gegenüber, die Eheprobleme mit ihrem Mann, einem Prediger, hatte. Woher hatte mein Mandant das gewusst? Weil er monatelang mit einem Scanner ihre Gespräche über ein schnurloses Telefon abgehört hatte. In dieser Zeit war er zu der Überzeugung gekommen, dass die Ursache dieser Probleme in ihrer Schwärmerei für ihn liege. Wer Augen im Kopf hatte, hätte ihm sagen können, dass diese Behauptung absurd war. Trotzdem glaubte er fest daran. Er glaubte es immer noch, wie er es sechs Wochen zuvor geglaubt hatte, als er gewaltsam in ihren Trailer eingedrungen war, sie gegen die Küchentheke gedrängt und seinen Unterleib an ihr gerieben hatte. Zu einer Vergewaltigung oder zur Penetration war es nicht gekommen, und beide waren bekleidet geblieben. Warum er schließlich gegangen war, damit wollte er nicht herausrücken. Ich vermutete, dass er vorzeitig ejakuliert hatte.
Bei unserer ersten Besprechung hatte er auf einem Prozess bestanden. Warum? Weil
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