Der König der Lügen
sie gewollt habe, was er getan hatte. Dafür dürfe man ihn nicht bestrafen. Oder? »Das wär nicht in Ordnung, ich sag's Ihnen. Sie liebt mich, Sie hat's gewollt«, erklärte er.
Ich konnte die Schwitzer nicht ausstehen. Sie hörten einem zu, aber sie rückten immer zu dicht heran, als könnte man sie wahrhaftig retten. Drei Wochen zuvor hatten wir uns in meinem Büro getroffen, und er hatte mir seine Version der Geschichte dargelegt. An der Version des Opfers war weiter nichts Überraschendes. Sie wusste kaum, wie er hieß, sie fand ihn körperlich abstoßend, und sie hatte keine Nacht mehr durchgeschlafen, seit es passiert war. Ich fand sie absolut glaubwürdig. Der Richter brauchte nur einen Blick auf sie zu werfen, und für meinen Typen würde der Hammer fallen. Keine Frage.
Irgendwann konnte ich meinen Mandanten davon überzeugen, dass es in seinem besten Interesse wäre, sich der einfachen Körperverletzung schuldig zu bekennen. Das war ein minderes Delikt, und ich hatte mit dem Staatsanwalt eine Vereinbarung getroffen. Er würde Sozialdienst ableisten müssen. Keine Haftstrafe.
Auf dem Flur leckte er sich die Lippen, und ich sah vertrocknete Speichelklümpchen in seinen Mundwinkeln. Ich wollte ihm erklären, was von ihm erwartet wurde und was er dem Gericht sagen sollte. Aber er wollte nur über sie reden. Was hatte sie über ihn gesagt? Wie hatte sie ausgesehen? Was hatte sie angehabt?
Er hatte sämtliche Merkmale eines lebenslangen Mandanten. Beim nächsten Mal würde es vielleicht etwas Schlimmeres sein.
Ich warnte ihn: Der Richter würde ihm verbieten, sich dem Opfer noch einmal zu nähern, und wenn er es doch täte, wäre das ein Verstoß gegen die Urteilsauflagen. Er kapierte es nicht, oder es war ihm egal. Aber ich hatte meine Arbeit getan, so widerwärtig sie auch war, und er konnte wieder in sein kleines Loch kriechen, zurück zu seinen dunklen Phantasien über die Frau des Predigers.
Der zweite Mandant war ein junger Schwarzer, dem vorgeworfen wurde, sich der Festnahme widersetzt zu haben. Der Cop sagte, er habe eine Festnahme behindert und eine Zuschauermenge angelockt, indem er den Polizisten zugerufen habe, sie sollten sich verpissen. Mein Mandant hatte etwas anderes zu berichten. Vier weiße Cops seien nötig gewesen, um den einzelnen Schwarzen zu fangen, der da verhaftet worden war. Als der Einsatzleiter an meinem Mandanten vorbeigegangen war, hatte er eine Zigarette geraucht, und mein Mandant hatte gesagt: »Deswegen kriegt ihr auch keinen. Weil ihr raucht.« Der Cop war stehen geblieben und hatte gefragt: »Wollen Sie in den Knast?« Mein Mandant hatte gelacht. »Dafür könnt ihr mich doch nicht verhaften«, hatte er gesagt.
Der Polizist hatte ihm Handschellen angelegt und ihn in den Streifenwagen geschoben. Und jetzt waren wir hier.
Diesem Mandanten glaubte ich, hauptsächlich weil ich den Cop kannte. Er war ein fetter, niederträchtiger Kettenraucher. Das wusste auch der Richter. Ich dachte mir, wir hätten eine gute Chance für einen Freispruch.
Die Verhandlung dauerte weniger als eine Stunde. Mein Mandant wurde freigesprochen. Manchmal ist ein vernünftiger Zweifel leicht zu wecken. Manchmal nicht. Als ich ihm die Hand schüttelte und den Tisch der Verteidigung verlassen wollte, sah ich Douglas im Schatten des Alkovens am hinteren Ende des Gerichtssaals stehen. Er kam nie ohne einen Grund ins Bezirksgericht. Gewohnheitsmäßig hob ich die Hand, aber er hielt die Arme vor der fetten Brust verschränkt. Er sah mich unter hängenden Lidern an, und ich wandte mich ab, um mich von meinem strahlenden Mandanten zu verabschieden. Als ich wieder nach hinten schaute, war Douglas nicht mehr da.
Im Handumdrehen verflogen die letzten meiner Illusionen, und ich stand nackt vor der Wahrheit, die ich den ganzen Morgen über geleugnet hatte. Der Raum schwankte, plötzlich überzog eine warme Feuchtigkeit mein Gesicht und meine Handflächen: der Angstschweiß, diesmal von innen. Auf weichen Knien stolperte ich aus dem Gericht und lief an anderen Anwälten vorbei, ohne sie zu sehen oder zu hören. Ich pflügte mich durch die Menschenmassen im Flur und tastete mich voran wie ein Blinder. Beinahe wäre ich durch die Toilettentür gefallen, und ich nahm mir nicht die Zeit, die Kabine zu verschließen. Akten rutschten unbeachtet auf den Boden, als meine Knie auf die feuchten, urinfleckigen Fliesen fielen. In einem endlosen Krampf übergab ich mich in die stinkende Toilettenschüssel.
SIEBZEHN
I
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