Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
drehte den Jungen zu sich um und fragte sich verständnislos, wie er die versteinerten Kiefermuskeln hatte übersehen können, die unnatürliche Blässe. »Wer hat das getan?«
Lucas blinzelte kurz. »Wenn Ihr erlaubt, würde ich lieber nicht darüber sprechen.«
Also Prinz Edward, schloss Jonah. Er hatte doch immer geahnt, dass mit diesem edlen, jungen Helden irgendetwas nicht stimmte – er war einfach zu gut, um wahr zu sein. Keine Beherrschung und kein Maß, hatte die Königin gesagt …
Plötzlich schwankte Lucas und taumelte. Jonah packte auch seinen anderen Arm und bewahrte ihn so vor dem Sturz, doch die ruckartige Bewegung entlockte dem Jungen einen kleinen, halb unterdrückten Schrei.
Jonah zog mit dem Fuß einen Schemel heran, setzte Lucas darauf und schlug den Kurs ein, den er immer steuerte, wenn er ratlos war: »Ich hole deine Mutter.«
»Nein! Bitte nicht, Sir.«
»Lucas … sie muss es erfahren.«
»Aber nicht sehen, oder?«
Doch, meinte Jonah. Sie würde wissen, ob sie einen Arzt holen mussten oder nicht. Er fragte sich einen Moment, ob der Junge sich vor seiner Mutter genierte. Das gehörte zu den tausend Facetten einer normalen Kindheit, von denen er nicht die geringste Ahnung hatte.
»Was wäre so schlimm daran?«, fragte er.
Lucas antwortete nicht gleich. Er hielt den Kopf gesenkt, aber man konnte den Adamsapfel in seiner Kehle arbeiten sehen. Die Hände lagen lose auf den Knien, die schmalen Schultern wirkten gramgebeugt. Ohne aufzusehen sagte der Junge: »Sie ist meine einzige Hoffnung. Nur sie könnte es fertig bringen, Euch zu überreden, mich zu Prinz Edward zurückkehren zu lassen. Aber sie wird einen Mordsschrecken kriegen, wenn sie mich so sieht, und nichts davon halten.«
Jonah traute seinen Ohren kaum. »Du willst zurück? Nachdem er das getan hat?«
Lucas nickte. »Er war … außer sich vor Wut.«
»Ja, das ist nicht zu übersehen.«
»Er hat gesagt, es gäbe nichts Verwerflicheres, das ich hätte tun können. Loyalität sei der Schlüssel zu allen ritterlichen Tugenden, und ein Sohn schulde zuallererst seinen Eltern Loyalität. Und er hat doch Recht, oder?«
Jonah fand, es gab eine Menge schlimmerer Sünden, als wenn ein Kind einmal über die Stränge schlug – zumal ein zwölfjähriger Knabe, auch wenn er seinem Vater bis an die Schulter reichte und schon beinah wie ein junger Mann aussah, die Tragweite seiner Taten nicht immer richtig einzuschätzen vermochte. Aber das konnte er schlecht sagen, hatte er seinen Sohn doch eigens zu dem Zweck hierher geführt, um ihn für seine Verfehlung zu bestrafen.
»Er hat prinzipiell Recht, ja. Was du getan hast, war ungeheuerlich. Du hast deine Mutter und mich beschämt.«
Lucas nickte unglücklich. »Ich weiß.«
»Es sieht dir überhaupt nicht ähnlich. Welcher Teufel hat dich nur geritten?« Plötzlich glitt Lucas’ Blick fluchtartig zum Fenster, und Jonah wurde argwöhnisch. »Sei so gut und gib Antwort.«
»Großvater«, gestand der Junge. Er flüsterte beinah. »Großvater war der Teufel. ›Der Prinz will dich in seinen Haushalt nehmen, und dein Vater verbietet es?‹, hat er gefragt. ›Warum, um Himmels willen? Er verbaut dir eine große Zukunft. Wieso gehst du nicht einfach? Manchmal muss man sich nehmen, was man haben will, Lucas.‹ Es klang so vernünftig. So richtig. Erst als es zu spät war, ging mir auf, dass es feige war. Und dass ich alle hintergangen habe, meine Eltern, meinen Prinzen, alle, denen ich Ehre machen wollte.« Zum ersten Mal füllten seine Augen sich mit Tränen, aber er zwang sie zurück. Es war mühsam und dauerte ein Weilchen, aber es glückte.
»Verstehe.« Langsam wurde Jonah so einiges klar. Welche Chance hatte Lucas gegen de la Poles Einflüsterungen gehabt, denen Jonah doch als junger, aber immerhin schon erwachsener Kaufmann selbst noch manchmal erlegen war?
»Und der Prinz war eben wütend, weil ich ihn so bitter enttäuscht habe«, erklärte Lucas reumütig. Er schien entschlossen, die ganze Schuld auf sich zu nehmen und nicht zuzugeben, dass der junge Edward jegliches Maß der Vernunft überschritten hatte.
Er muss seinen Prinzen wahrhaftig sehr lieben, erkannte Jonahund verspürte einen unerwarteten Stich. Normalerweise neigte er nicht zur Eifersucht. Da er sich selbst nicht sonderlich liebenswert fand, stellte er diesbezüglich eher geringe Ansprüche. Aber gerade mit Lucas lagen die Dinge ein wenig anders, und dieser Stich bewog ihn, zum ersten Mal seine Motive anzuzweifeln
Weitere Kostenlose Bücher