Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
allen, die sie bisher gesehen hatten: Ein Herold mit einem Banner, welches ein Wappen mit zwei goldenen Löwen zeigte, ritt vorneweg, gefolgt von wenigstens einem Dutzend Rittern. Dahinter kam ein großer, sehr feiner Mann, unter dessen Mantel aus himmelblauem Tuch ein blankes, von Edelsteinen besetztes Kettenhemd funkelte. Er trug ein mächtiges Schwert an der Seite und ritt einen prachtvollen Grauschimmel mit gewellter Mähne und Schweif, dessen Schabracke wieder das Wappen zeigte. Ein weiteres Dutzend Ritter, eine Schar Knappen, Falkner und livrierter Diener beendeten den Zug.
Das ist eine halbe Armee, dachte Jonah verwundert. »Wer mag das sein?«, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten.
Doch Meurig sagte: »Der Earl of Norfolk, des Königs Onkel. Darum die Löwen im Wappen.«
Jonah starrte ihn an. »Woher weißt du das?«
Meurig hob kurz die massigen Schultern. »East Cheap liegt so nahe am Tower, Sir, wer hier ein paar Monate gelebt hat, kennt allerhand adelige Damen und Herren von Angesicht oder zumindest ihr Wappen. Aber der Earl ist nicht auf dem Weg zum Tower, wie Ihr seht. Ich hab gehört, er steigt im Gasthaus des Lord Mayor ab, in Pountney’s Inn. Wie so viele der feinen Herrschaften. Dort speist man von goldenen Tellern, heißt es. Sehr viel feiner als im Tower.«
Jonah sah seinen pfiffigen Diener mit immer größerem Erstaunen an und begann zu verstehen, warum der Mayor so eifrig um die Zustimmung der Stadt zu diesem Turnier geworben hatte. Vermutlich hatte er Recht gehabt mit der Behauptung, jeder Londoner könne daran verdienen, aber gewiss keiner so viel wie der Bürgermeister selbst.Am nächsten Morgen nach dem Frühstück entließ Jonah Rachel und Meurig wie versprochen, und das junge Dienerpaar eilte voller Vorfreude nach Cheapside, um sich das große Spektakel anzusehen. Jonah hatte eigentlich auch vorgehabt hinzugehen, aber jetzt zögerte er. Sicher herrschte ein fürchterliches Gedränge. Vermutlich würde er einem Beutelschneider zum Opfer fallen. Jemand würde ihm Ale über den neuen Mantel schütten. Turniere oder Paraden interessierten ihn im Grunde nicht im Geringsten; der einzige Anlass, zu dem er sich freiwillig in eine Menschenmenge stellte, war, um ein Schauspiel zu sehen. In Wahrheit hatte er ja nur erwogen, zum Turnier zu gehen, weil er hoffte, einen Blick auf die Königin zu erhaschen. Und jetzt, da es so weit war, verließ ihn der Mut. Wieso sollte er sich das antun? Was hätte er schon davon, sie zu sehen? Ein blutendes Herz, nichts weiter.
»Jonah?«, erscholl eine Stimme im Hof. »Wo steckst du?«
»Hier, im Tuchlager!«, antwortete er.
Der große Elia musste genau wie Jonah den Kopf einziehen, um durch die niedrige Tür zu passen. »Was tust du denn noch hier? Wir wollten zusammen nach Cheapside, schon vergessen … Oh, Jonah, was für ein wundervolles Tuch!« Mit leuchtenden Augen betrachtete Elia die Ware aus Flandern, die er im Regal entdeckt hatte, und streckte zögernd die Linke aus. »Darf ich?«
Jonah machte eine einladende Geste. »Natürlich.«
Fast ehrfürchtig nahm Elia den Ballen herunter, trug ihn zum Tisch und schlug ihn auf. Dann trat er einen Schritt zurück und bewunderte die gleichmäßige moosgrüne Farbe und das Schillern im Gewebe, das den Seidenanteil verriet. »Herrlich«, urteilte er mit einem Seufzen. »Ist es Burrat?«
Jonah nickte. »Gutes Auge«, lobte er, denn ein einfacher Kaufmann wie Elia Stephens bekam gewiss nicht oft ein solches Mischgewebe zu sehen.
Elia lachte schelmisch. »Um ehrlich zu sein, ich hab’s hier dran erkannt.« Er hielt das bleiverplombte Siegel am Ende der Tuchbahn hoch, mit dem jeder kostbare Stoff versehen wurde,um die Echtheit zu garantieren. Das Siegel besagte außerdem, dass das Tuch den Qualitätsanforderungen der jeweiligen Gilde der Herstellungsstadt entsprach, was beruhigend zu wissen war, wenn man Stoffe aus der Fremde importierte.
Elia fuhr noch einen Augenblick mit dem Zeigefinger über die reich verzierte Prägung des Siegels, ließ es dann los und wandte sich zu Jonah um. »Was ist, gehen wir?«
»Elia, ich …«
»O nein. Kommt nicht in Frage. Du hast es versprochen, Jonah.«
»Das habe ich keineswegs. Ich sagte, vielleicht.«
»Trotzdem. Jetzt komm schon. Du kannst nicht immer nur arbeiten, jeder Mann braucht hin und wieder ein bisschen Vergnügen.«
»Was, wenn ich dir sagte, dass ein solches Gewimmel kein Vergnügen für mich ist?«, wandte Jonah ein.
»Dann würde ich erwidern, du
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