Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
steinerne Kirche von St. Mary le Bow war eins der schönsten Gotteshäuser der Stadt, dessen unverkennbarer Glockenschlag den Leuten von Cheapside abends das Schließen der Stadttore verkündete. Sie stand genau in der Mitte der Turnierstrecke, die vom Great Cross bis zur Sopar’s Lane im Osten reichte, also etwa eine Viertelmeile lang war. Auf gleicher Höhe mit der Kirche hatte ein Heer von Londoner Zimmerleuten eine Art Balkon errichtet, der von einer Straßenseite zur anderen reichte. Diese Tribüne schien zwei Mann hoch über dem Boden zu schweben – damit auch ja keiner der Reiter mit seiner langen Lanze dagegenstieß – und war an beiden Seiten mit einer Brüstungversehen, sodass die Zuschauer ebenso nach Osten wie nach Westen blicken konnten. Links war dieses unglaubliche Konstrukt an die Kirche angebaut und wohl irgendwie an ihrem Mauerwerk verankert, rechts stand es auf hölzernen Stelzen und überspannte West Cheap ohne einen einzigen Stützpfeiler.
»Bei den Zähnen Gottes …«, stieß Elia hervor. »Ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist.«
Auch Jonah schüttelte in fassungsloser Bewunderung für diese meisterhafte Leistung der Zimmerleute den Kopf. Unverwandt starrte er zu dem Balkon hinauf, dessen Streben und Balustraden mit Girlanden, bunten Tüchern, Wimpeln und Wappen geschmückt waren. Die ersten Damen hatten sich schon eingefunden und nahmen ihre Plätze auf den Holzbänken ein. Ausnahmslos junge Damen, stellte er fest, nicht wenige schön, alle elegant und in edle Tuche gekleidet, manche mit unbedecktem, geflochtenem Haar, die verheirateten mit schulterlangen, schleierdünnen Tüchern, die mit Stirnreifen gehalten wurden, auf dem Haupt, manche trugen auch aufwendige Hauben.
Elia nahm einen tiefen Zug aus seinem Bierkrug und sah sich um. Seine Neugier war unersättlich; er hatte die Augen weit aufgerissen, als fürchte er, irgendetwas könne ihm entgehen. »Wie wär’s, wenn wir auf die Streben klettern?« Er wies auf den Unterbau des Balkons. »Wir hätten einen fantastischen Blick.«
Jonah nickte. »Und würden vermutlich eingesperrt. Die Tribüne ist nicht für unseresgleichen, Elia, auch nicht die Streben.«
Sein Freund verdrehte ungeduldig die Augen. »Ich könnte glauben, ich wär mit meinem Vater hier …«
Jonah hob lächelnd die Schultern, ohne den Blick von der Tribüne zu wenden. »Mach, was du willst. Ich rühr mich nicht vom Fleck.«
Ein Trompetenstoß ertränkte Elias Antwort – was, so mutmaßte Jonah, kein großer Verlust war –, und dann kam sie. Gefolgt von einem wahren Kometenschweif an Hofdamen trat Königin Philippa aus einem der großen, oberen Fenster der Kirche, welches heute als Zugang zur Tribüne diente, stellte sich an dieBrüstung und winkte lächelnd auf die Menschen hinab. Die sonst so zynischen, schwer entflammbaren Londoner jubelten ihr zu und riefen ihren Namen.
Philippa strahlte, hob die Linke von der Brüstung und winkte, mehr begeistert als gebieterisch, mit beiden Armen.
Jonah musste lachen. Unverwandt starrte er zu ihr hinauf, mit verschränkten Armen und ohne auch nur einen der vielen tausend Menschen um sich herum noch wahrzunehmen. Er vergaß sie einfach, hatte nur Augen für Philippa. Sie trug Rot. Hätte sie ihn zuvor gefragt, hätte er ihr abgeraten. Nie hätte er geglaubt, dass sie sich diese Farbe leisten konnte. Er hatte sich geirrt. Das grelle Purpur machte ihre eigenwilligen Züge nicht schärfer, die ausgeprägte Nase nicht größer, wie er befürchtet hätte. Auch ließ es sie nicht kränklich bleich wirken, wie es bei so vielen Frauen der Fall war. Es machte eine Königin aus ihr. Sie trug das aufwendige, weit fallende Kleid mit selbstvergessener Anmut, und die Farbe offenbarte ihre wahre Courtoisie . Es kam Jonah vor, als sehe er Philippa heute zum ersten Mal. Ihr glänzend braunes Haar umrahmte in Flechten aufgesteckt ihr Gesicht, ehe es unter dem kleinen couvre-chef verschwand, welches von einem kronenartigen Diadem gehalten wurde. Edelsteine funkelten darin. Es war perfekt. Jonah war verzauberter denn je.
Erst mit einiger Verspätung nahm er wahr, dass der Jubel der Menge eine andere Tonart angeschlagen hatte, und ein zweites Geräusch war hinzugekommen: das Donnern vieler Hufe. Beinah unwillig wandte er den Blick ab. Philippa hatte ihn nicht entdeckt. Wie sollte sie auch, in diesem Gedränge? Er wusste, es war albern, so enttäuscht zu sein, aber er konnte nichts dagegen tun. Nur wegen ihr war er schließlich
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