Der König und die Totenleserin3
Die Reichsten unter ihnen, eine Gruppe von zwölf, waren ebenfalls im »Pilgrim’s Rest« abgestiegen und hatten vor, ihr Seelenheil endgültig zu sichern, indem sie ihre Pilgerfahrt in Glastonbury beendeten, der ältesten und heiligsten aller Abteien Englands und, was noch verlockender war, angeblich der Ort des alten Avalon.
Sie begrüßten Emmas Vorschlag, sich ihr und ihrem Tross auf dem Weg in den Südwesten anzuschließen. »Je mehr, desto besser«, erwiderte ihr Anführer, ein beleibter Bürger aus Yorkshire.
»Und sicherer«, sagte eine Äbtissin aus Cheshire. Sie betrachtete Master Roetger wohlgefällig. »Ich hoffe, Euer Ritter kommt mit uns.«
»Bis nach Wells«, sagte Emma. »Aber unterwegs werden wir einen Abstecher nach Aylesbury machen und dort ein paar Tage verweilen. Master Roetger wird in einem Gerichtskampf das Recht meines Sohnes auf eine Besitzung verteidigen.«
»Ein Gerichtskampf?«
»Gerichtskampf?«
Die Tischgesellschaft im Gasthaus horchte auf. Pilgerfahrten zu den Heiligen mochten ja einen Platz im Himmel sichern, aber das Diesseits hatte kaum etwas Unterhaltsameres zu bieten, als zwei Kämpen dabei zuzusehen, wie sie versuchten, sich gegenseitig totzuschlagen.
Der Beschluss war rasch gefasst. Die Pilger würden ihre neue Freundin, Lady Wolvercote, getreulich auf ihrem Umweg zum richterlichen Kampfplatz in Aylesbury im County Buckinghamshire begleiten.
Da sie sich angesichts eines so großen Gefolges vor räuberischen Überfällen sicher fühlte, schickte Emma einen ihrer Reitknechte voraus, um einen Brief nach Wells zu bringen, wo ihre Schwiegermutter Lady Wolvercote ein weiteres Anwesen bewohnte, das der kleine Pippy von seinem Vater geerbt hatte. »Damit kündige ich mein Kommen an«, erklärte sie Adelia. »Wie ich höre, ist es die schönste aller Besitzungen, und falls sie mir gefällt, werde ich mich dort niederlassen. Somerset ist ein besonders angenehmes County. Auf dem Grund gibt es auch ein zusätzliches Haus, ein Witwengut, so wurde mir gesagt, in das die alte Frau ziehen kann, damit sie ein Dach über dem Kopf hat – vorausgesetzt, sie und ich verstehen uns. Falls nicht, kann sie eines der Anwesen irgendwo anders haben – selbstverständlich ein kleineres.«
»Hast du sie nie kennengelernt?«
»Nein«, sagte Emma kalt. »Zu meiner Hochzeit wurden weder Verwandte noch sonst wer eingeladen.«
Es würde eine befremdliche Begegnung werden – eine geraubte Braut und eine Schwiegermutter, die einander völlig fremd waren. Adelia empfand Mitleid mit der unbekannten Frau. Solange Emma in dieser Stimmung war, würde der geringste Missklang genügen, um die bedauernswerte Lady aus ihrem Haus zu vertreiben und in ein anderes zu schicken.
Sie sagte: »Bestimmt wird sie vor lauter Entzücken darüber, ihren Enkel kennenzulernen, die Liebenswürdigkeit in Person sein.«
Aus Wolvercotes früherer Ehe waren keine Kinder hervorgegangen. Seine erste Frau war schon wenige Wochen nach der Hochzeit gestorben und hatte ihm eine stattliche Mitgift hinterlassen. Da Adelia den Mann kannte, hatte sie diesen Umstand stets verdächtig gefunden.
»Das würde ich ihr auch raten«, sagte Emma unheilvoll.
Die Richter von Aylesbury saßen auf Bänken unter einem mit Wimpeln geschmückten Sonnensegel. Eine ebenfalls überdachte Tribüne bot den nicht am Prozess beteiligten reichen und bedeutenden Menschen Platz. Gewöhnliche Sterbliche trotzten in großer Zahl der Sonne und säumten die mitten auf dem Feld in den Boden gerammten Spießreihen, die eine mit Sand bestreute, sechzig Quadratfuß große Fläche abgrenzten.
Es war ein Volksfest. In kleinen Zelten wurde Ale und Zuckerwerk feilgeboten. Spielleute unterhielten die Menge mit Liedern, Zauberkunststücken und Akrobatik. Marktfrauen verkauften Wäscheklammern und Kräuter. Dahinter, auf offenem Feld, schossen Schwalben über dem jungen Getreide hin und her.
Der Herold der Richter blies eine Fanfare, ehe er die beiden Kombattanten mit schallender Stimme ankündigte. »Vor dem Auge des allmächtigen Gottes werden Master Peter aus Nottingham, der für Sir Gerald L’Havre antritt, und Master Roetger aus Essen, der für Lord Philip, Baron Wolvercote, antritt, an diesem Tage den Beweis erbringen, wem das Herrenhaus von Tring mit allem Zubehör rechtmäßig gehört.«
Die Trompete ertönte erneut. »Die Kämpen mögen sich mit
scuti
und
bacculi
bewaffnen und vortreten, um den Richtern zu schwören, dass sie in diesem Gerichtskampf
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