Der König und die Totenleserin3
sagte Emma, sie müsse einem Ruf der Natur folgen. Emma, die ein Taschentuch in den Händen zwirbelte und die Augen starr auf den Kampfplatz gerichtet hielt, erwiderte nur: »Komm schnell zurück! Vielleicht wird Master Roetger dich brauchen.«
Die Zuschauer, die die Knie anzogen, als Adelia die Reihe entlang zur Treppe ging, spähten um sie herum und schnalzten ärgerlich mit der Zunge, weil sie ihnen für einen kurzen Moment die Sicht versperrte.
Hinter der Tribüne war extra für den Anlass eine Latrine ausgehoben worden. Eine Wolke von Fliegen hing darüber, die sogar über den ringsherum aufgestellten Flechtzaun hinweg zu sehen war. Adelia ging daran vorbei, kletterte über einen Zaun und folgte einem Pfad bis zum Bach, wo der Lärm der Menge hinter ihr kaum noch zu hören war. Sie setzte sich unter einer Weide ins Gras, zog die Stiefel aus und ließ sich vom Wasser die Füße kühlen.
Was mache ich hier eigentlich?
Durch ihre Flucht aus dem Sumpfland hatte sie sich von allem getrennt, was ihr Halt gab. Es war schmerzlich gewesen, ihre Patienten zu verlassen und Abschied von Prior Geoffrey zu nehmen, und eine noch größere Trauer hatte sie erfasst, als sie sich in St. Augustine kurz, aber innig von Ulf verabschiedete, Gylthas Enkelsohn, nicht mehr der kleine Bengel, der einst ihr Gefährte gewesen war, sondern unter der Aufsicht des Priors zu einem jungen Mann herangereift, der sich der Jurisprudenz widmen wollte. Und, ach, sie würde Wächter vermissen. Emma mochte den Hund nicht, und Adelia war dazu überredet worden, ihn in der Obhut des Priors zu lassen.
Ohne sie alle fühlte Adelia sich entwurzelt, haltlos, zumal sie ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte. Wenn sie keine Ärztin war, war sie nichts: Nicht mal Allie konnte diese Leere füllen. Wo sollte sie hin? Was sollte sie tun?
Die schattenhaften Forellen im Bach waren ebenso ziellos wie sie, und sie verlor die Lust daran, sie zu beobachten. Sie lehnte
den Kopf nach hinten gegen den Baum.
Ach, verdammt, sie würde zurück nach Salerno gehen. Allie und Gyltha ihren geliebten Zieheltern vorstellen – die hatten geschrieben, wie sehr sie sich danach sehnten, ihre Enkeltochter kennenzulernen. Ja, genau das würde sie machen. Dort könnte sie sich wieder ihren Lebensunterhalt verdienen. Vielleicht würde ihr alter Lehrer Gordinus sie erneut als seine Assistentin nehmen, oder sie könnte Vorlesungen über Leichensektion halten.
Ja, wenn sie ihre Verpflichtung Emma gegenüber erfüllt hatte, würde sie heimkehren. Allie würde in Salerno eine bessere Ausbildung bekommen, als ihre Mutter sie ihr hier bieten konnte – obwohl, wie Adelia stolz dachte, das Kind schon jetzt ein wenig Latein konnte.
»Und, Henry, diesmal werde ich dich
zwingen,
mich gehen zu lassen«, sagte sie laut.
Bislang hatte der König ihr immer einen Pass verweigert. »Die Toten sprechen zu Euch, Mistress«, hatte er ihr erklärt, »und ich muss wissen, was ein paar von den armen Teufeln zu sagen haben.«
Aber falls der König hart blieb? Tja, dann gab es andere Möglichkeiten, aus dem Land zu kommen – Bootsmänner aus dem Sumpfland, die nicht nur ihre Freunde waren, sondern auch Schmuggler, würden sie nach Flandern bringen.
Adelia starrte auf die zarten Weidenblätter über ihr und überlegte, wie sie die Reise ihrer Familie durch Frankreich und über die Alpen bis ins Königreich Sizilien bezahlen könnte … in einem Planwagen Arzneien verkaufen … sich als Kräuterkundige einer Pilgergruppe anschließen …
Sie erwachte, nachdem sie geträumt hatte, sie säße im Kolosseum inmitten einer Menschenmenge, die sich am Blut der Gladiatoren ergötzte und nach immer mehr schrie. Die Landschaft vor ihr lag noch immer friedlich da, aber der Bach spiegelte jetzt einen bernsteingelben Himmel wider.
Großer Gott, die Sonne ging bald unter! Sie hatte Stunden geschlafen, und das Geschrei der Menge in der Ferne war laut und schrill geworden, was darauf schließen ließ, dass jemand verletzt war. Sie wollte es gar nicht sehen.
Aber sie war Ärztin.
Adelia stand auf und schüttelte Schmetterlinge ab, die sich auf ihrem Rock niedergelassen hatten. Sie zog ihre Stiefel an und eilte den Pfad hinauf.
Die Menschen auf der Tribüne machten von ihrer Rückkehr ebenso wenig Aufhebens wie von ihrem Fortgang. Das Taschentuch in Emmas Händen war völlig zerfetzt, ihr Gesicht weiß.
Die beiden Kämpen waren nicht mehr wiederzuerkennen. Der Sand hatte sich auf die verschwitzte Haut und
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