Der König und die Totenleserin3
denen sie gehangen hatten, verschwunden waren. Stattdessen erstreckte sich nun ein breiter, mit Holzresten übersäter Grasstreifen zwischen Straße und Wald. Frauen sammelten Äste und trugen sie zu ihren Männern, damit die sie zu Feuerholz zerhackten. Als Adelia und Millie vorbeiritten und winkten, schauten sie auf, lächelten.
Auf der Hügelkuppe, wo die Straße nach Glastonbury abging, stiegen Adelia und Millie ab. Adelia bückte sich, um ein Blatt von der Erde aufzuheben, und drückte es Millie in die Hand. »Für Gyltha«, sagte sie und bewegte dabei die Lippen überdeutlich. Millie hatte den Namen gelernt, weil sie Adelia beim Aussprechen beobachtet hatte, während diese Gyltha auf die Schulter klopfte. Adelia hoffte, ihr noch weitere Wörter beizubringen. Aber wie sollte sie vermitteln, dass sie nicht lange fortbleiben würde? Sie zeigte auf die Sonne und bewegte ihren Finger ein Stückchen gen Westen, dann hauchte sie einem imaginären Kind auf ihren Knien einen Kuss zu. »Sag Allie, ich hab sie lieb und dass ich bald wieder bei ihr bin!«
Millie nickte und ging den Hang hinunter. Am Fuß des Hügels fegte Godwyn gerade Staub zur Vordertür des »Pilgrim Inn« hinaus. Er blickte auf, und als er Millie auf sich zukommen sah, lächelte er zum ersten Mal seit dem Sumpfland.
Gut, dachte Adelia. Das lässt sich gut an.
Die Abtei lag reglos da, doch auf der Hauptstraße im Ort war Leben. Männer schaufelten die Trümmer zusammen, die mal ihre Häuser gewesen waren, bereit, sie wiederaufzubauen. Unbemerkt von ihm, beobachtete sie Alf, der geschickt eine Krummaxt schwang, um einen frisch gefällten Stamm zu behauen.
Besser als Noah, dachte Adelia und war glücklich.
Ja, heute lag wirklich etwas Neues in der Luft.
Sie stieg wieder aufs Pferd und ritt den Weg hinunter, der zwischen Abteimauer und dem Fuß des Hügels entlangführte.
Oben auf der Höhe schirmten einige Berittene die Augen mit den Händen gegen die Sonne ab und reckten die Hälse, um einen Jagdfalken zu beobachten, der am Himmel kreiste. Vom Bellen eines Hundes aufgeschreckt, flatterten ein paar Wildtauben aus einem kleinen Wäldchen auf. Der Vogel über ihnen nahm die Form eines gespannten Bogens samt Pfeil an und stieß herab. Die Tauben zerstreuten sich, und eine von ihnen flog sehr tief, vielleicht weil sie die Gefahr spürte. Der Falke jedoch war wie ein Geschoss. Mit ausgestreckten Klauen packte er die Taube mit solcher Wucht im Flug, dass es ihr das Genick brach.
Als Adelia die Gruppe erreichte, saß der Falke bereits wieder auf der Faust seines Besitzers und trug eine gefiederte Haube, unter der nur sein böser kleiner, stählern schimmernder Schnabel hervorlugte.
»Guten Tag, Mylord.«
Mit großer Vorsicht setzte der Falkner den Vogel auf den Handschuh seines Hüters, erklärte seinen Männern, sie sollten auf ihn warten – »Diese Lady und ich haben eine vertrauliche Angelegenheit zu erledigen« –, und ritt gemeinsam mit Adelia den Hügel hinauf.
»Ihr habt ein scheußliches Temperament, wisst Ihr das?«, sagte Henry Plantagenet. »Ihr müsst lernen, es zu beherrschen.«
Adelia fragte sich, was wohl aus ihrem Ruf am königlichen Hofe werden würde. »Ja, Mylord. Ich bitte um Verzeihung, Mylord.«
»Wie ich höre, hat Lady Wolvercote ihren Erlass zum Recht der Erben gewonnen.«
»Aber das Herrenhaus verloren.« Sie erzählte ihm von der Rache der alten Lady.
»Ach«, sagte der König, dann hellte sich seine Miene auf. »Tja, das gibt wieder Arbeit für die Gerichte. So, wo ist denn nun diese Höhle?«
Adelia hatte Schwierigkeiten, sie wieder zu finden. Jetzt, wo Eustace beerdigt war und die Mitglieder der Zehnschaft begonnen hatten, ihr Leben neu aufzubauen, wies nichts mehr auf sie hin. Hier oben sah ein bewachsener Vorsprung aus wie der nächste. Doch nach ein paar Fehlversuchen stieg sie schließlich ab und bog die Zweige beiseite, die den Eingang und den Mann verbargen, der auf sie gewartet hatte.
»Guten Tag, Mansur«, sagte Henry.
»Guten Tag, Mylord.«
Im Innern entfaltete die Elfenhöhle ihren Zauber, und niemand sagte mehr ein Wort.
Der König ließ den Blick schweifen, bekreuzigte sich und stieg durch das Loch in der rückwärtigen Mauer, das Mansur herausgebrochen hatte. Nach einer Weile folgte Adelia ihm.
Ein König kniete im Gebet vor dem ausgestreckten Skelett eines anderen. Grünes Licht, das durch einen Riss im Felsen über ihnen drang, fiel auf sie beide und den stillen Tümpel zu ihren
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