Der König und die Totenleserin3
sagte Will nach kurzem Überlegen. »Die werden behaupten, er is irgendwo anders reingekommen, hat das Feuer gelegt und is beim Rauskriechen in die Falle gegangen.«
»Das sieht der Doktor anders«, sagte Adelia und nickte Mansur zu, der ebenfalls nickte. »Eustace hat sich mit seinem eigenen Messer selbst die Finger abgeschnitten. Das hätte er wohl kaum getan, wenn nicht sein Leben davon abgehangen hätte, oder?«
Die Zehnschaft nickte einhellig. Kein Mann trennt sich freiwillig von den Fingern seiner rechten Hand, es sei denn, er ist in allergrößter Not. Eustace hätte gewartet, bis irgendwer ihn befreite, und die Strafe in Kauf genommen, die unter einem barmherzigen Abt wahrscheinlich nicht allzu hart ausgefallen wäre.
»Genau«, fuhr Adelia fort. »Eustace
musste
sich selbst befreien. Er ist durch den Tunnel gekrochen, um ein paar Sachen zu stehlen. Seht hier …« Wieder benutzte sie den Stock, um damit im Unkraut herumzustochern. Sie fand den Beweis, von dem sie wusste, dass er da sein musste, und wäre fast vor Erleichterung, ihn gefunden zu haben, in die Knie gegangen. »Seht!« Sie legte drei verkohlte Knöchelchen frei. »Das sind seine Finger.«
Sie begriffen noch immer nicht.
Sie sagte: »Die Finger liegen auf der Seite der Abtei, zeigen in ihre Richtung. Wenn … Nicht anfassen, Alf, die sind genau da, wo sie liegen, unser Beweis … Versteht ihr denn nicht? Wenn Eustace auf dem Rückweg von der Krypta gewesen wäre, dann hätten sie auf der anderen Seite der Falle liegen müssen. Die hat ihn erwischt, als er
in
die Abtei wollte. Ich denke, der Doktor denkt, dass das Feuer schon ausgebrochen war und sich auf die Mauer zu ausbreitete. Wenn er sich nicht die Finger abgeschnitten hätte, wäre er bei lebendigem Leibe verbrannt.«
Wieder sah sie Eustace vor ihrem geistigen Auge, hilflos, wie Flammen durchs Gras auf sein Gesicht zuzüngelten, wie er verzweifelt mit dem Messer durch eigene Knorpel und Knochen sägte, um freizukommen, wie er das Fleisch seines kleinen Fingers aus den Zähnen der Falle riss, die dessen erstes Glied seitlich erwischt hatte. Sie sah, wie er Moos und Gras um die schreckliche Wunde wickelte und den Hügel hinaufstolperte, um dort langsam an Blutverlust oder Blutvergiftung zu sterben, während er Gott oder vielleicht auch Arthur um Hilfe anflehte, die nie kam.
»Der arme alte Nichtsnutz«, sagte Alf leise.
»Und Ihr beweist seine Unschuld für uns?«, fragte Will.
»Ja«, antwortete Adelia. »Ich werde das alles dem Bischof von St. Albans erzählen, und er wird es dem Sheriff sagen.«
Sie ging im Kopf noch einmal die Beweiskette durch, drückte das Unkraut beiseite, sodass die Lage der verbrannten Fingerknochen noch deutlicher zu sehen war.
Mansur stieß einen Ruf aus.
Sie drehte sich erschrocken um.
Die Zehnschaft war weg. Dort, wo die Männer noch vor Sekunden gestanden hatten, waren jetzt nur noch verbrannte Steine und der Anstieg eines Hügels zu sehen. Es war, als wären sie in der Sonne zerschmolzen.
»Kommt zurück, kommt zurück!«, schrie Adelia. »Ihr habt mir noch nichts über Emma erzählt.« Aber ihr Ruf verhallte wirkungslos, schreckte nur einen Schwarm Grasmücken aus dem Unterholz auf.
Der einzige Beweis dafür, dass die Zehnschaft je existiert hatte, war die Harfe, die sicher in Rhys’ Armen ruhte.
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Kapitel zehn
R owley war so wütend, dass er kaum mit ihr reden konnte.
Und Adelia war trotz des Nickerchens, das sie gehalten hatte, nachdem eine fürsorgliche und erleichterte Gyltha sie nach ihrer Rückkehr ins »Pilgrim Inn« zu Bett gebracht hatte, noch immer so müde, dass sie ihm seine Wut verübelte. Wäre ihm denn lieber gewesen, man hätte sie vergewaltigt und ermordet?
Aber nein, ihre schlimmste Untat war offenbar, dass sie die Rufe seines Suchtrupps missachtet und sich nicht vor lauter Dankbarkeit
ob ihrer Rettung vor sein Pferd geworfen hatte.
»Ich musste nicht gerettet werden«, gab sie zu bedenken. »Ich war nicht in Gefahr.«
»Von einem Haufen Halsabschneider entführt, um ein Skelett zu untersuchen – so was ist für dich wohl ein netter kleiner Ausflug, was?«
»Das waren keine Halsabschneider, das war Eustace’ Zehnschaft. Wir sind uns gestern Abend auf der Straße über den Weg gelaufen, sie haben mich gefragt, ob ich sie zu der Höhle begleiten würde, wo sie ihn gefunden hatten – und ich bin mitgegangen.«
»Wie man das nun mal so macht«, sagte Rowley.
»Ich hatte gehofft, sie wüssten vielleicht
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