Der König und die Totenleserin3
floss. Ich wollte … aber es war zu gewaltig, alles verloren … Aloysius … Ich konnte es nicht fassen … Ich konnte nicht … Vater, vergib mir!«
Er vergrub das Gesicht in der Schulter des Abtes, schluchzend wie ein übergroßes ungezogenes Kind, das Trost bei der Mutter sucht.
Und Sigward wiegte ihn wie eine Mutter. »Ich weiß, mein Sohn, ich weiß.«
Ja,
dachte Adelia plötzlich. Du wusstest es, nicht wahr?
Sie stand auf und verließ den Raum. Mansur folgte ihr nach draußen. Das ging nur die christliche Kirche etwas an.
Sie betraten den Hof, wo Allie zaudernd vor ihrem Vogelkäfig stand. »Soll ich, Gyltha, soll ich?«
»Das musst
du
wissen«, antwortete Gyltha.
Allie holte tief Luft. »Ich glaub, dann tu ich’s.« Sie band das Weidentürchen am Käfig los und öffnete es. Der Buchfink flatterte heraus, setzte sich kurz auf den Ziehbrunnen und flog davon.
»Ist doch richtig so, oder?«, fragte Allie unter Tränen.
Adelia riss sie an sich und küsste sie. »Ich hab dich lieb, Almeisan. Ich hab dich so schrecklich lieb.«
Nach einer Weile hörten sie die Vordertür des Gasthofs aufgehen und das Schlurfen von Titus’ Schritten, als seine Mönchsbrüder ihn nach Hause führten.
Rowley kam in den Hof gestürmt. »Tja, das wäre erledigt.«
»Wirklich? Was wirst du tun?«
Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nichts. Es war ein Unfall, geschehen ist geschehen.
Quieta non movere.
«
Schlafende Hunde soll man nicht wecken, meinst du?, dachte Adelia. Laut sagte sie: »Der Abt hat es gewusst.«
»Es vermutet, möglicherweise.«
»Und nichts gesagt.«
Er fuhr aus der Haut. »In Gottes Namen, Adelia, was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Du hast gerade einen gebrochenen Mann gesehen. Reicht das nicht?«
Ja, das hatte sie, und er tat ihr leid, aber andere Männer hätten beinahe für ein Verbrechen zahlen müssen, das sie nicht begangen hatten. Der gütige alte Abt Sigward … sie würde nie wieder dasselbe für ihn empfinden.
»Unsere Mutter Kirche ist das Einzige, was zwischen uns und dem Teufel steht«, sagte der Bischof von St. Albans. »Wenn sie unsere Achtung verliert, sind wir alle verloren.«
Er wandte sich um und sah seine Tochter an. »Und weswegen heulst du?« Sein noch nicht ganz verflogener Zorn ließ die Frage gereizt klingen und nicht so besorgt, wie er sie wahrscheinlich gemeint hatte.
Adelia stand unverzüglich auf und trat zwischen die beiden. »Sie weint, weil sie ihren Vogel freigelassen hat.«
»Wieso? Ich dachte, sie hängt an dem Piepmatz.«
»Tut sie auch. Aber sie konnte es nicht ertragen, ihn eingesperrt zu sehen. Sie wollte, dass er frei ist.«
»Ach Gott, sie wird genau wie du.« Er löste die Zügel seines Pferdes von der Stange, schwang sich in den Sattel und ritt davon.
Und das, dachte Adelia, ist der Kern von allem, was zwischen uns nicht stimmt.
Drinnen trat ihr Hilda entgegen. Das Gesicht der Wirtin war böse verzerrt. »Seht Ihr, was Ihr meinem lieben Abt angetan habt? Seid Ihr und dieser Braunkopf jetzt zufrieden?«
Adelia reichte es. Diese Frau hatte doch nur von Anfang an behauptet, dass Eustace der Brandstifter war, weil sie im tiefsten Inneren wusste, dass er es nicht war. »Euer lieber Abt hat es verdient«, fauchte sie zurück, schob Gyltha und Allie vor sich die Treppe hinauf und ging zu Bett … und träumte.
Diesmal wurde die Königin von unsichtbaren Händen in einer Höhle eingemauert, sodass es aussah, als türmten sich die Steine Schicht um Schicht wie von selbst übereinander, während die Frau dahinter Adelia anflehte, dem ein Ende zu machen, bis schließlich der letzte Stein an Ort und Stelle war und ihre Stimme verstummte.
Adelia wachte auf mit den Worten: »Schon gut, schon gut, ich komme zu dir.«
Sie nahm Mansur, Gyltha und Allie mit. Sie vergewisserten sich, dass niemand sie beobachtete, und stapften hügelan, folgten der Spur aus niedergetretenem Gras und abgebrochenen Zweigen, die der Abstieg am Vortag hinterlassen hatte. Gyltha trug den Proviant, Mansur eine Eisenstange und eine Laterne, Adelia ein Messer, das sie aus der Gasthofküche stibitzt hatte, und Allie einen Frosch und etliche Käfer, die sie unterwegs aufgelesen hatte.
Trotz der Spur hätten sie die Höhle hinter ihrem Vorhang aus Zweigen beinahe übersehen, wenn davor nicht ein Haufen Maultiermist gelegen hätte, der in der Sonne allmählich trocknete.
Während die Schutzwand aus Weidenruten entfernt wurde und der Gestank nach
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