Der König von Berlin (German Edition)
Meinung nach sei Burnout eine Variante der Depression. In der Hinsicht sei Max Machallik zwar eventuell auch gefährdet, aber was ihn da jetzt heimsuche, das sei nur Fluchtschlafen. Man kenne das von Kindern, die in Stresssituationen, wenn die Eltern streiten oder der Sonntagsbesuch bei der Tante anstünde, überfordert wären und in den Schlaf flöhen. Mittlerweile sei Fluchtschlafen jedoch auch immer häufiger bei Erwachsenen zu beobachten. Machen könne man wenig, da diese Müdigkeit ja keine körperlichen Ursachen habe, meinte der Arzt.
Vielleicht war Max aber auch nur wegen dieses verdammten Videos eingeschlafen. Dreimal hatte er es sich heute im Büro schon angesehen, zumindest so weit, bis er weggeschlummert war. Im Grunde wusste er natürlich, dass sein Bruder recht hatte – um das Rattenproblem in den Griff zu bekommen, würden sie irgendwann noch eine andere Strategie entwerfen müssen, als nur immer und immer wieder ein Video anzuschauen. In der Aufnahme war kein Hinweis zu finden, der eine Lösung andeutete, nirgendwo, ganz egal, ob man es wach oder schlafend ansah.
Langsam gestand Max sich ein: Es war ein absolutes Rätsel, wie sein Vater die Rattenpopulation der Stadt jahrzehntelang kontrolliert hatte. Ob er selbst zu bestimmten Knotenpunkten gefahren war, um dort Gift, Futter oder beides zu streuen? Er wusste nicht einmal, woher die Aufträge der ominösen Senatsstelle kamen. Sicher nicht vom Senat, denn es gab dort keine entsprechende Stelle – was aber auch niemand so genau wusste. Diese Behörde, die gar nicht existierte, versorgte alle Berliner Kammerjägerfirmen mit Aufträgen. Helmut und er vermuteten, dass ihr Vater das ausgeheckt hatte. Die Spur der Mails, mit denen die Aufträge übermittelt wurden, ließ sich nicht zurückverfolgen. Sie verlor sich in asiatischen IP-Adressen. Man wurde beauftragt, führte aus, und die Stadt bezahlte. Vielleicht steckte auch nur ein Computerprogramm dahinter, das der alte Machallik irgendwann in Asien hatte entwickeln lassen, um die Rattenpopulation im Gleichgewicht zu halten. Und nun war plötzlich eine Winzigkeit schiefgegangen: beispielsweise, weil jemand gestorben war, der regelmäßig ein kleines Rädchen gedreht hatte. Ein kleines Rädchen, scheinbar unbedeutend, das aber, wenn es nicht gedreht wird, unerbittlich die Katastrophe einleitet. Es war, das wurde Max immer klarer, sinnlos, in dem Video einen Hinweis auf dieses Rädchen zu suchen. Er wusste ja noch nicht einmal, ob es so ein Rädchen überhaupt gab. Es war zum Verzweifeln oder eben zum Wegdösen. Oder beides.
Helmut war am Morgen bei einem der Außenteams mitgefahren, da hatte er von Zeit zu Zeit Spaß dran. Ratten, Mäuse oder Kakerlaken jagen. Einfach mal rauskommen. Sich in andrer Leute Gärten, Häuser oder Keller umschauen. Fallen aufstellen, Gift auslegen. Für Helmut war das eine willkommene Abwechslung, Entspannung pur. Er konnte so was genießen.
Gott, wie verschieden sie doch waren, sein Bruder und er. Er hatte Helmuts und Vaters Begeisterung für die Ungezieferjagd nie so richtig teilen können. Wobei auch Helmut das Geschäft und die Ratten an sich nicht wirklich interessierten. Er hatte einfach Spaß am Jagen.
Max hingegen interessierte sich für rein gar nichts, was mit dem Kammerjägerberuf zu tun hatte, am allerwenigsten aber für Ratten. Wenn sein Vater Dinge sagte wie «Auch wenn wir die Ratte töten müssen, sollten wir nie vergessen, dass sie unser Freund ist, unser Verbündeter», dann hatte er auf Durchzug geschaltet. Max wollte die Ratte weder töten noch zum Freund. Er hätte einfach lieber einen anderen Beruf gehabt. Irgendetwas Bedeutsames, wirklich Wichtiges, Konstruktives. Zumindest konstruktiver als Tiere vergiften. Am besten aber einen Beruf ohne Verantwortung. Das wäre vielleicht das Entscheidende überhaupt. Diese gottverdammte Verantwortung, die ging ihm nämlich am meisten auf die Nerven.
Es klingelte. Max öffnete, und herein kam Frau Matthes mit den Mittagsschnittchen, die wie immer in der Form eines vierblättrigen Kleeblatts auf dem Teller lagen, mit Gurkensticks als Stengel.
Max war überrascht. «Ist denn Frau Jäger heute nicht da?»
Claire Matthes stellte den Schnittchenteller und die warme Milch ab. «Nein, die musste ihre Tochter aus der Kita holen. Die hat wohl Fieber, und ihr war schlecht, der Armen.»
«Frau Jäger hat eine Tochter?»
«Ja, natürlich. Das stand doch in den Bewerbungsunterlagen. Haben Sie sich die denn nicht
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