Der König von Berlin (German Edition)
angesehen?»
«Doch, selbstverständlich … Also, ich hab sie mehr überflogen, die Unterlagen.» Tatsächlich hatte er keinen einzigen Blick hineingeworfen, sondern sich ganz auf das Wort von Frau Matthes verlassen. Die fand Julia Jägers Referenzen hervorragend. Und sein Bruder hatte gesagt, dass alles schwer in Ordnung sei oder so. Oder hatte er das zu Helmut gesagt? Na, irgendjemand hatte in jedem Fall noch zu irgendwem irgendetwas gesagt. «Ja, ja», er spielte kurz Nachdenken und Sich-Erinnern, «ich habe das in der Tat gelesen, aber dann sofort wieder vergessen, weil ich die Stelle ganz objektiv besetzen und nur nach beruflichen Qualifikationen gehen wollte.»
Frau Matthes lächelte. «Und da haben Sie wirklich gut dran getan. Alleinerziehende Mütter haben es schon schwer genug. Es ist nicht leicht, einen Arbeitgeber zu finden, der es akzeptiert, wenn eine Frau wegen der Kinder plötzlich wegmuss. Kein Wunder, dass so wenig Kinder auf die Welt kommen, so wie mit Müttern heute umgesprungen wird. Ich bin froh, in einem fortschrittlichen Betrieb zu arbeiten.»
Max räusperte sich. «Aber selbstverständlich. Ich meine, man hat als Unternehmer doch auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Selbst in schweren Zeiten. Also, besonders in schweren Zeiten! Und im Moment haben wir ja weiß Gott eine schwere Zeit mit dieser Rattenplage. Aber selbst, wenn hier die Luft brennt, sollte ein krankes Kind immer Vorrang haben.» Er hielt inne. Der Blick seiner altgedienten Chefsekretärin verriet ihm, dass die Ansprache doch ein wenig zu pathetisch geraten war. Er schaltete ein paar Gänge zurück. «Soso, so ist das. Alleinerziehend, sagen Sie, ist die Frau Jäger. Das heißt, sie lebt wohl auch allein?»
«Nein, sie lebt mit ihrer Tochter.»
«Ja, das meine ich ja. Aber sonst, sonst lebt niemand mit den beiden zusammen?»
«Nein, und soweit ich weiß, hat sie wohl zurzeit auch keinen Freund, nicht mal einen in Aussicht.» Claire Matthes erschrak. «Oh, entschuldigen Sie, Max. Das ist mir so rausgerutscht. Das hat mir die Frau Jäger nun wirklich vertraulich erzählt. Und ich plaudere das einfach so aus. Unglaublich, dass mir so was nach all den Berufsjahren noch passiert. Ich werde wohl doch alt.»
Ihr auch nicht mehr ganz junger Chef knuffte sie zärtlich in den Unterarm. «Ach, Frau Matthes, machen Sie sich mal keinen Kopp. Sie werden uns alle überleben. Und was Ihre Vertraulichkeiten mit Frau Jäger angeht, keine Angst, bei mir sind die gut aufgehoben. Ich hab das sowieso in einer halben Stunde wieder vergessen, bei all den Sorgen, die wir haben.» Schlagartig wich die Fröhlichkeit aus seinem Gesicht.
Die alte Sekretärin sah es, und es tat ihr leid. «Wissen Sie, Max, was Ihr Vater immer gemacht hat, wenn ihm die Sorgen und Probleme über den Kopf wuchsen?»
Max Machallik schaute sie irritiert an. «Die Sorgen über den Kopf wuchsen? Meinem Vater?»
«O ja, Ihrem Vater. Was meinen Sie, wie oft er genauso verzweifelt und niedergeschlagen wie Sie jetzt in diesem Büro stand. Wie oft er keinen Ausweg, keine Lösung mehr sah.»
«So etwas habe ich nie bei ihm erlebt.»
«Natürlich nicht. Sie waren ja Familie. Vor Ihnen hätte er niemals Schwäche gezeigt. Nicht das kleinste Wanken durfte die Familie mitbekommen. Aber ich war seine Sekretärin. Sie können sich nicht vorstellen, was ich hier alles gesehen, mit Ihrem Vater erlebt habe.»
Sie schien in Erinnerungen abzugleiten, während Max Machallik plötzlich eine Energie in sich aufsteigen spürte. Das war ein ungewohntes, ganz neues Gefühl, aber es fühlte sich ohne Frage gut an. Überraschend gut. «Und was genau hat mein Vater getan, wenn ihm alles zu viel wurde?»
Frau Matthes sah ihn an, verdutzt, als hätte sie ihn in dem Moment erst im Raum bemerkt. Dann aber antwortete sie souverän: «Na, ganz einfach, er hat die Probleme anderen aufgehalst.»
«Er hat was?»
«Na, er hat sie jemand anderem auf den Buckel geladen, einfach die Verantwortung für den ganzen Mist weggeschoben.»
«Einfach? Hat sich derjenige denn nicht geweigert?»
«Natürlich nicht. Das ging immer mit einer Beförderung oder Berufung einher. Das waren, auf den ersten Blick, richtig tolle Posten, die Ihr Vater da verteilt hat. Erinnern Sie sich noch an Herrn Kasten, den ‹Economy Guard and Supervisor› der Firma?»
«Selbstverständlich. Mein Vater musste ihn damals feuern wegen des totalen Steuer- und Finanzdesasters in der Buchhaltung. Ich werde nie vergessen, wie er
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