Der König von Berlin (German Edition)
endlich den letzten fehlenden Mosaikstein an Information gewonnen. Es werde zunächst sicher noch den ein oder anderen Vorfall geben, das ließe sich leider nicht vermeiden, aber der eigentliche Kampf, das sei die gute Nachricht, sei nun wahrscheinlich gewonnen. Am Ende stellte Max Machallik dann Toni Karhan vor, das Gehirn, den Architekten der neuen Rattensicherheit Berlins.
Toni hatte seine Rolle schnell begriffen: Als mysteriöses, osteuropäisches Genie mit einem aparten, eingeschränkten Sprachcode faszinierte er die Journalisten und erzählte beeindruckende Geschichten von gewaltigen Rattenplagen in Warschau, Caracas, Neapel, Delhi oder Minsk. Und noch ehe jemand misstrauisch werden konnte, spielte er seinen höchsten Trumpf aus: «Googeln Sie ruhig diese Plagen, Sie werden finden nichts. Kammerjäger sind gewohnt, arbeiten absolut diskret, in tiefste Untergrund. Geheim. Ist gut.» Aber dennoch tausche man sich natürlich aus und stelle anderen Städten die eigenen Erkenntnisse zur Verfügung, wenn auch vertraulich. Doch jede Stadt sei anders und benötige einen individuell zugeschnittenen Plan. «Plan von Berlin», so schloss er, «ist gut, sehr gut. Rattenplage bald schon ist egal.»
Den daraufhin auf ihn einprasselnden Fragen, wie denn dieser Plan aussehe, wich er erstaunlich geschickt aus. Mit recht abenteuerlichen Vergleichen: Berlin und die Ratten seien wie zwei aneinandergekettete fliehende Häftlinge, die sich zwar gegenseitig fürchteten und hassten, jedoch nur überleben könnten, wenn sie einen gemeinsamen Weg fänden. Die Häftlinge würden sich zutiefst misstrauen, dabei hätten sie nur noch nicht bemerkt, wie aus ihnen längst schon zwei Liebende geworden seien. Dazu dachte sich Toni Karhan osteuropäische Sprichwörter aus: «Wo Ratten sind, ist Hoffnung, denn hoffnungslosen Ort Ratten würden sofort verlassen.» «Solange Ratten nicht gehen, mögen bessere Zeiten kommen.» Oder auch: «Wer klagt über Ratten, hatte noch nie Schlangen.» Als Toni allerdings spürte, wie die Begeisterung für seine Erzählkunst bei einigen Journalisten einem gewissen Befremden zu weichen drohte, überließ er Georg Wolters, dem Helden der letzten Nacht, die Bühne.
Dieser genoss mit geradezu kindlicher Freude seinen unverhofften Ruhm. Als die Ratten auf den Platz strömten, habe er gleich gewusst, wie wichtig es sei, einen kühlen Kopf zu bewahren. Natürlich habe auch er Angst gehabt, alle hätten schreckliche Angst gehabt. Zehntausende hungrige Ratten, man solle ihm mal den Menschen zeigen, der da kein Muffensausen bekäme. Man müsse sich allerdings klarmachen, dass so eine Situation auch für die Ratte ungewohnt und purer Stress sei. Es gelte zu fragen: Was will die Ratte? Warum ist sie hier? Wie kann ich ihr helfen? Nicht sofort bekämpfen, erst einmal helfen. Das sei das Geheimnis. Darum müsse man als Erstes Menschen und Ratten beruhigen, dann sei schon viel gewonnen. Viele Probleme zwischen Mensch und Ratte entstünden nur, weil beide Seiten bei der Begegnung so aufgeregt seien, ausschließlich instinktiv handelten. Also müsse man den Menschen eine Aufgabe und den Ratten ein Ziel geben, damit beide von ihrer Angst und Hysterie abgelenkt seien. Man solle Ruhe bewahren, was sich natürlich leichter sagen als umsetzen lasse, wenn eine Unmenge hungriger Ratten in ein Restaurant platzt. Daher brauche es auch Autorität. Die Autorität des Experten, also des Kammerjägers. Er habe quasi befohlen, so viele Lebensmittel wie möglich auf einen großen Haufen bei den S-Bahn-Bögen zu werfen. Um so eine Schneise zu schlagen, ähnlich einer Brandschneise, aber eben aus Futter, so etwas wie eine Lebensmittel-Firewall, wodurch man unter Menschen wie Ratten eine noch größere Panik habe vermeiden können und Fluchtwege eröffnete. Wie durch ein Wunder sei ja auch niemand ernsthaft verletzt worden.
Selbst Georg war etwas überrascht, als nach dieser kurzen Schilderung starker Applaus aufbrandete. Ein richtiger, also ein Künstlerapplaus in Matineestärke. Ihm gelang ein bescheidenes Gesicht, er bedankte sich mit feuchten Augen. Natürlich habe er einfach sehr, sehr viel Glück gehabt. Dafür könne er, wem auch immer, gar nicht genug danken, und man dürfe sich auch nicht darauf verlassen, immer so viel Glück zu haben. Deshalb überlege er, in nächster Zeit Seminare für jedermann anzubieten, wo man das richtige Verhalten in Krisensituationen erlernen könne, und ein Buch über den Umgang mit Ratten, Spinnen und
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