Der König Von Korsika
Lissabon, Marseille, Tunis. Er war frei.
Zwei Stunden später klopfte es an seine Tür. Es waren Giafferi und Paoli, die während der consulta zwischen allen Stühlen gesessen hatten, hin- und hergerissen zwischen ihren zwei Loyalitäten, der Freundschaft zu Theodor und ihrem Patriotismus, der sie zwang, mit zusammengebissenen Zähnen und schamrotem Gesicht ihrem Souverän erniedrigende Zugeständnisse abzupressen – nun aber vorgeschickt von den schockierten Delegierten, die plötzlich wie aus einem rauschhaften Traum in einen Katermorgen erwacht waren, zerknirscht zur Besinnung kamen und Theodor, als er sich wieder einfand, die Hand küßten, aber seinen Blick mieden.
Es ist, dachte der, wie nach einer Liebesnacht mit einer Fremden, wenn man den Fehler begeht, bis zum Morgen zu bleiben. Man hat sich in der erotischen Raserei in einer Schamlosigkeit entblößt, die man vergessen will, an die einen aber Gesicht und Blick des anderen erinnern. Man kann nichts als Abneigung und Verlegenheit empfinden gegenüber jemand, der einem in den Mahlstrom der Seele geblickt hat.
Die Krönung fand am fünfzehnten April im Kloster von Alisgiani statt.
Das rhythmische Vivatgeschrei Tausender von Menschen, in das in manchen Augenblicken der Messe wie eine Luftblase in einer Glaskugel die tiefe Waldesstille mit dem Basso continuo der Grillen und den Arpeggi der Singvögel eingesiegelt war, die psalmodierenden Rezitative Orticonis, die Huldigungslieder der korsischen Männerchöre, die in breiter Front vor ihm standen, als wollten sie ihm ans Leder, ihr kehliger polyphoner Gesang, der Theodor an den Ruf des Muezzins in Tunis erinnerte, versetzten ihn in eine Art von Trance, in der er die Feier durchlebte, als befände er sich unter Wasser, wohin nur verwellte Bilder und verzerrte Geräusche drangen.
Die Prozession der Vierundzwanzig, die vor ihm niederknieten und ihm den Ring küßten, das Gefühl (Dornenkrone, Vogelnest?) des Lorbeerkranzes, den Giafferi und Paoli im anschwellenden Jubel auf sein Haar drückten. Es lebe der König von Korsika! Aufstehen jetzt, grüßen, lächeln. Die Würde der Erhöhung. Er mußte sich zwingen, sie nicht zu spielen, sondern zu empfinden. Oder war Empfindung immer eine bewußte Willensanstrengung? Der höchste Moment eines Lebens. Wenn man ihn nur ernst nehmen könnte! Wären sie jetzt doch alle hier und sähen mich, Jane, Amélie, Mortagne, die Pfälzerin, Görtz, Sternhart, der schwedische Karl, der Zar, die Geliebten... Aber war es denn seriös: König von Korsika? War ein König dieser Bandeninsel zu vergleichen etwa mit dem König von Frankreich? Giafferis Stimme am Vortag: Don Teodoro, ich entschuldige mich auf den Knien, aber Sie müssen sie verstehen. Es sind Männer, denen die Würde geraubt wurde. Seit Generationen werden sie erniedrigt, abgespeist, betrogen, von oben herab behandelt, dumm gehalten. Ihr ganzes Leben besteht aus Kompromissen und Selbstbetrug. Nichts höhlt den Menschen so aus wie der mitverschuldete Verlust seiner Würde. Ein Mann kann Sie ein Schwein nennen, das macht nichts, aber wenn er Sie
dazu zwingt, sich selbst ein Schwein zu heißen, dann zerbricht etwas in Ihnen. Don Teodoro, Majestät, haben Sie Verständnis. Es sind jetzt Ihre Kinder, Ihr Volk.
Er hörte die Chöre: Theodor, Baron Neuhoff, einstimmig zum König von Korsika proklamiert. Eine Woge trug ihn höher und höher zur Sonne, dann stürzte er nach unten in den Schatten eines Wellentals. Dieser lächerliche Fels im Mittelmeer, nach wie vor von Genua beherrscht, und er, Paradiesvogel, Abenteurer, Gespött der gebildeten Stände, die »The Gentleman’s Magazine« lasen, und er empfand Scham angesichts dieser Farce hier, halb Bauernhochzeit, halb Händeloper. Das Szepter jetzt, dann die Urkunde, wo sollte er unterschreiben? Die Brille bitte.
Ich habe völlig vergessen, an die Liebe zu denken, seit Monaten. Ist das ein Zeichen von Reife und Würde? Oder von Alter und Verwesung? Seine Handfläche spürte die Wärme glatter Haut, glitt über die weiche, schwach pulsierende, ein wenig feuchte Kuhle einer Ellenbeuge, sein Zeigefinger strich über den zarten Flaum eines Arms, weit, weit fort von allem hier.
Dreizehntes Kapitel
Es war nicht Theodors private Lust, die sich da ergoß, während sein interessierter Blick das gerötete, von einem schwarzen Haarkranz umrahmte Gesicht unter ihm abtastete, über die vergitterten Fenster glitt und den fadenscheinigen, verblaßten Perser wahrnahm, es war der
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