Der König Von Korsika
entdeckte mit Bestürzung die Lücken seiner Bildung, oder besser gesagt, den Ozean seiner Ignoranz, in dem die Atolle des Wissens kaum mehr auszumachen
waren, wenn Sternhart Jahrhunderte geistiger Abenteuer zusammenschaute oder mit Querverweisen jonglierte, angesichts derer Theodor nur mit Hilfe seiner erprobten Taktik sein Gesicht zu wahren vermochte, das flüchtig Erhaschte und Erinnerte mit viel Frechheit als Gegenbeispiel ins Gespräch zu werfen und ansonsten Sternharts dozierenden Redefluß mit wissend lächelnden »Hat er nicht übrigens auch geschrieben, daß...« und »Mag ja sein, aber mir gefällt sein Stil nicht, und der Stil macht den Mann« zu begleiten, in der Gewißheit, daß Höflichkeit und Eifer den anderen hinderten, ihm fatale Rückfragen zu stellen.
Es waren für Theodor Tagesausflüge ins Reich des Geistes, aber danach kam er auch ganz gern wieder nach Hause. Er fand das Lebenskonzept des Widderschädels, Lesen als Arbeit zu betrachten und vor Sachkenntnissen auf die Knie zu sinken wie vor Epiphanien, übertrieben wie den Hedonismus im Park Le Nôtres. Die Heiligung des Denkens war ebensowenig sein Weg wie die Banalisierung der Sünde.
Übrigens traf er Sternhart nicht allzu häufig, denn der war gezwungen, sein Dasein als Hauslehrer zu fristen, und dann bildeten die Dinge, über die sie redeten, auch nur den Überschuß im Lernvermögen des Preußen. Dessen eigentliche Fakultät war die Mathematik, und den größten Teil des Tages verbrachte er mit Tüfteleien an seinen vermaledeiten Maschinen (und im Moment dem Erlernen der italienischen Sprache – er hatte einen erbarmungswürdigen Akzent, sowohl auf italienisch wie auf französisch -, um sich mit dem Marchese jenseits der Alpen austauschen zu können).
Zwei Dinge waren in Theodors Leben getreten, die ihn mehr beschäftigten als Sternhart und sein Dünkel des Denkens, das waren die Liebe und das Geld, und beide hingen eng miteinander zusammen.
Zunächst einmal wurde Theodor im Garten der Diana
des Schlosses von Fontainebleau nach allen Regeln der Kunst von der verständigen Baroness Valentini entjungfert.
Er ahnte wohl kaum, wieviel Glück er hatte, dieses Erlebnis, für das es, da es eben das erste ist, keinerlei Vorbereitung gibt, mit einer Frau zu teilen, für die die Liebe kein metaphysisches Problem war, sondern eine praktische Lösung.
Natürlich wollte Theodor seit geraumer Zeit in die Mysterien der körperlichen Liebe eingeweiht werden, noch wichtiger jedoch war es ihm, den Eindruck zu erwecken, er kenne sie bereits. Ohne die Italienerin wäre er womöglich sein Leben lang unschuldig geblieben, denn das schier unüberwindliche Problem bestand darin, daß er, um zu wissen, wenigstens und zum mindesten eine Person einweihen mußte, diese jedoch gerade diejenige war, vor der er seine Ahnungslosigkeit am strengsten geheimhalten zu müssen glaubte.
Im übrigen beunruhigte ihn die vage Vorstellung, der sexuelle Akt sei als Mysterium auch eine Zelebration exquisiter, makelloser Schönheit, ein Kunstwerk, wo eines sich fugenlos ins andere fügen und die Perfektion des Gesamten die Summe der Perfektion aller Einzelteile sei. Und da er sich weit entfernt von körperlicher Perfektion wußte, fragte er sich bang, ob er denn nicht nur Abscheu und Gelächter erregen würde.
Mit einem Wort, er machte sich die Dinge schwerer, als sie sind, was aber auch hieß: Er machte sich große Vorstellungen von der Sache. Insofern war es ein Glück, daß er an die Valentini kam – und auch wieder nicht.
Denn für die Italienerin war die Liebe die logische Fortführung und Steigerung der sonstigen Aktivitäten bei Hofe, der Unterhaltung, Zerstreuung, des intrigenreichen Machtspiels und der allgemeinen Pilgerfahrt zum Heiligtum immer pikanterer, immer ausgefallenerer Vergnügungen.
Eine glückliche Disposition, ihre Seele mit kaum feststellbarer Verzögerung immer ganz dem Wollen ihres Körpers und Bewußtseins hinterherzuschicken, verhinderte, eine kalte Verführerin aus ihr werden zu lassen. Mit wem sie der Liebe frönte, den liebte sie auch, und genau so, wie ihre Gefühle synkopiert ihrem Trieb nachfolgten, erkalteten sie auch nach dessen Verglimmen nur mit Verzögerung, und in dieser Zeitspanne stand ihr eine ganze romantische Gefühlswelt aus Nostalgie und Trauer zur Verfügung, in der zu schwelgen sie zwar nicht hinderte, sich einem neuen Favoriten zuzuwenden, die ihr aber das tragische Voranschreiten der Zeit bewußt machte und ihren
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