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Der König Von Korsika

Titel: Der König Von Korsika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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fiebrigem Blick nur Sternharts weißen Körper auf den der Hure klatschen und fühlte sich an die Schweineschlachtung im Dorf erinnert -, fielen derbe Worte, fletschte sie die Zähne wie ein Fleischerhund, riß die Kutschentür auf und sprang, das Mieder über der Brust noch halb offen, zornig hinaus, wandte sich wieder um und spuckte dann gegen die Scheibe, hinter der Theodors blasses Gesicht erschien, aber es war ein Spucken, wie es die Gassenjungen praktizieren: Sie holte mit einem häßlichen Geräusch den Inhalt ihres Rachens und ihrer Nase in den Mund und spie ein kompaktes, nicht ganz farbloses Schleimbällchen aus, das, während sie davoneilte,
in Schlieren das Glas hinablief, durch das der Baron ihr nachsah.
    Aber all diese schrecklichen Erlebnisse verblaßten wie Träume im Tageslicht eines viel tieferen Schocks.
    Theodor, mit der Pfälzerin in Fontainebleau, hatte bei seiner Abreise einen Brief Mortagnes ungeöffnet liegenlassen, da er vermutete, es müsse darin von seinem bevorstehenden Eintritt ins Régiment d’Alsace die Rede sein. Als er von der vor lauter Lustbarkeiten schwerverdaulichen Landpartie mit Kopfschmerzen und einem moralischen Kater zurückkehrte, öffnete er das Schreiben und las, daß seine Mutter an der Cholera gestorben sei.
    Ein zweiter Brief, der noch am selben Tag eintraf, berichtete vom Begräbnis, das aufgrund der Temperaturen und der Ansteckungsgefahr in aller Eile habe stattfinden müssen, auch ohne den unauffindbaren Sohn.
    Theodor befiel ein Fieber mit Schweißausbrüchen und Schüttelfrost, er legte sich zu Bett, ließ Larbi die Läden schließen und starrte an die Decke. Er wollte weinen und konnte nicht. Es war seine Schuld, daß sie gestorben war. Er wollte wissen, wie sich alles zugetragen hatte, er wollte mit ihr reden, sie ansehen, ihre Stimme hören, ihre Hände um sein Gesicht fühlen. Nichts davon war möglich. In rasendem Tempo zogen die Momente ihres Sterbens an ihm vorüber, immer wieder, jedesmal anders. Immer war er dabei, redete mit ihr, half ihr, rettete sie. Dann fiel mitten in die Erleichterung über eine geglückte Szene die Erinnerung: Sie ist tot.
    Er hatte kaum je geschrieben. Er hatte sie nie besucht. Er hatte keine Eile gehabt, denn er hatte geglaubt, er könnte sein ganzes Leben lang zu jedem beliebigen Zeitpunkt zurückkehren und würde alles und jeden so vorfinden wie am Tag seiner Abreise, als sei nur gerade eine Minute vergangen. Und zugleich hatte er den Besuch hinausgeschoben aus Angst, seine Abwesenheit und die Zeit könnten eine
Veränderung bewirkt haben und er würde womöglich nichts mehr wiedererkennen.
    Es war seine Schuld. Seine achtlose Liebe hatte nicht ausgereicht, sie vor dem Tod zu bewahren. Er wollte wissen, wie es geschehen war. Es konnte nicht wahr sein. Welche Schuld es ist, fortzugehen, welche Schuld, nicht das ganze Leben bei den Seinen zu bleiben und sie zu beschützen!
    Er blieb drei Tage im Bett. Larbi wachte bei ihm und wartete sorgenvoll, daß die Krise vorüberging. Theodor sah das Haus, die Obstbäume, die mit geradem Rücken am Tisch sitzende, schwarzgekleidete, betende Amalia, ihre Augen, die die häßliche Welt davonscheuchten und ihn durchschauten. Er sah den Hund, wie er der Kutsche nachlief, er sah Amélie, die winkend zurückblieb. Er sah den Wind in den grünen Weizenfeldern der Hochebene und die bauchigen, an den Rändern zerfetzten Wolken am blaßblauen Himmel und ihre riesigen Schatten, die durch die Ebene und die Hügel hinaufglitten.
    Im gleichen Regen, der hinter den Fenstern auf den grauen Rasen und die Orangerie fiel – vom Nebenzimmer erklangen die Heimwehtiraden der inkontinenten Pfälzerin inmitten ihrer gefüllten Nachttöpfe aus dem Kannebäckerland – läßt er seine Mutter vom Hospiz zum Dorf zurückfahren, über die aufgeweichten Wege, in die die Räder tiefe Spuren prägen, seine Mutter bittet den Kutscher anzuhalten, sie fühlt sich nicht wohl, sie versucht auszusteigen und fällt mit dem Gesicht voraus in den Schlamm. Ihre Kinder sind weit fort. Der Kutscher springt erschrocken vom Bock. Ist die Baronin ohnmächtig? Welch ein Schock, ihre schwarze Mantille, ihr schwarzes – graues? – Haar kotbespritzt zu sehen. Zögernd dreht er sie um. Die Augen stehen offen, sind verdreht, zeigen das Weiße. Ein Brechreiz reißt den Mund auf. Schaumig und nach Fäulnis stinkend quillt milchig-körniger Brei aus dem Rachen. Die schattigen
Stellen unter ihren Augen, ihre Wangen, ihre Hände laufen blau an

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