Der König Von Korsika
und erkalten. Sie zittert wie eine von einer Riesenhand gebeutelte Gliederpuppe. Die um ihren Arm geschlossene Hand des Kutschers wird mitgeschüttelt. Er läßt los und flüchtet. Sie liegt alleine im Matsch und stirbt. Aber jetzt endlich ist er da, hat es noch rechtzeitig erfahren, blickt sie an, sie öffnet die Augen, sieht ihn, er rettet sie...
Amélies Brief traf einige Tage später ein und schloß mit der Ankündigung ihrer Verlobung mit dem Grafen von Trévoux, den sie auf Mortagnes Schloß kennengelernt hatte. Der Gönner hatte seine Schuldigkeit getan.
Als Theodor nach einer Woche wieder nach Paris kam, erfuhr er, daß Jakob Sternhart, der frischgebackene Doktor, in die »Kurfürstlich Brandenburgische Societät der Wissenschaften« aufgenommen worden war und nach Greifswald zurückkehrte.
Wie fein war die Flamme des Triumphs in seinen Augen! Seine Beharrlichkeit hatte sich ausgezahlt, sein Lebenskonzept sich als das richtige erwiesen. Auf einmal stellte er, mochte er auch ein Mann des dritten Standes und ohne Geist und Manieren sein, seinen Freund Theodor in den Schatten. Ein Akademiemitglied und Professor verdiente den zehnfachen Lohn eines Leutnants, von der gesellschaftlichen Anerkennung ganz zu schweigen. Die Erniedrigung war vollkommen, und Theodor hatte ihr nichts entgegenzusetzen, kein Wissen, kein Geld, kein Glück, kein Zuhause. Ein freudloses kurzes Soldatenleben, wie sein Vater es geführt hatte, stand ihm bevor.
Sechstes Kapitel
Theodor wußte, was er nicht war, ein Gelehrter und Denker, und auch, was er nicht werden wollte: ein Leutnant der französischen Armee. Aber wie es mit ihm gemeint sei und ob es notwendig wäre, Schale für Schale von seiner Zwiebelseele abzuziehen, um es herauszufinden, das war ihm schleierhaft.
Der Gedanke, das Webmuster seiner Existenz fertig vor sich zu sehen und es nur noch in lebenslangem Hin und Her ausfüllen zu müssen, war unerträglich. Wozu hatte man ihn wie einen jungen Falken erzogen, wenn er jetzt als infanteristisches Rebhuhn durch die staubigen Niederungen des Alltags hüpfen sollte?
Das Leutnantssalär war erbärmlich, wenn auch völlig ausreichend, um auf eine bescheidene und vorsorgende Hausväterart sogar eine Familie zu ernähren. Im übrigen lag die Zukunft eines Leutnants relativ klar vor Augen: In zehn Jahren konnte man Oberleutnant, in zwanzig Hauptmann werden, kam ein Krieg und zeichnete man sich aus – und verlor kein Bein und keinen Arm dabei, verreckte nicht am Wundbrand, erblindete nicht an Pulververbrennungen, ging nicht an Dysenterie oder Umnebelung zugrunde -, sogar noch vor dem Ruhestand Major oder gar Oberst. Dann zog man sich auf sein Gut in die Provinz zurück und starb.
Nur besaß Theodor weder Gut noch heimatliche Provinz. Er hatte den Eindruck, die ganze Welt stehe ihm offen, aber überallhin gehen zu können, bedeutet zugleich,
nirgendwohin zu gehören. Und bei näherem Hinsehen bestand die Welt, die er überblicken konnte, aus einer Unzahl palisadenumzäunter Krautgärtchen.
Die Menschen, mit denen er sprach, um sich seiner selbst klarer zu werden und sich vielleicht von einem von ihnen inspirieren zu lassen, waren in der Zitadelle ihrer religiösen, geistigen, materiellen oder sexuellen Identität verschanzt, in der man sie zwar besuchen, aus der man sie aber nicht herauslocken konnte.
Wie ein feiner Handschuh glitten Theodors Sprache und seine Gesten, seine Haltung und Überzeugung über die seines jeweiligen Gegenübers, und für die Dauer eines Gesprächs glich er sich ihm an – wenn auch nie anders, als wie gewisse Insekten pflanzliche Formen und Strukturen nachahmen und sich für das Auge nicht mehr von ihnen abheben; diese Wesen wollen ja keine Blätter werden!
Von einer ältlichen Dame de Ferjol bei Hofe erfuhr er Tieferes über die Gedanken des Jansenismus als bei Pascal selbst, aber wehe, Theodor deutete auf eine Gruppe sich amüsierender Tänzer: Da schlug sie das Kreuz und spuckte beinahe aus. Vom Grafen von Sully lernend, hätte er eine Kapazität in Pferdezucht werden können, kam er aber, um ein wenig Atem zu schöpfen, auf Bücher zu sprechen, verwies der Adlige ihn an seine Frau und rümpfte die Nase. Ein Pariser Richter wiederum, in dessen bewundernswerter Bibliothek er sich von all dem Pferdemist erholte, lud ihn nicht wieder ein, nachdem Theodor seine Verliebtheit in eine Frau erwähnt hatte. Der Richter machte ein Gesicht, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen, lehnte sich mit abwehrend
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