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Der König Von Korsika

Titel: Der König Von Korsika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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hinter ihm auf dem Gepäck hockte.
    Der Diener führte eine Art Reiseapotheke mit sich, aus der er seinem Herrn zwei getrocknete Nelken reichte, und wies ihn an, sie auf den faulen Zahn zu legen und zuzubeißen.
    Für Minuten wurde der Himmel farblos und das Wasser schwarz, jede Schaukelbewegung drohte seinen Schädel zu sprengen, und Theodor hatte das Gefühl, über die Lethe gestakt zu werden.
    In einer durch den Schmerz geschärften und zugefeilten Zuspitzung aller Sinne, mit einer Mischung aus Enttäuschung über die verdorbene Freude und zugleich gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit und Aufnahmebereitschaft sah er dann, wie die Campaniles von San Giorgio Maggiore und San Marco zunächst als himmelblau und türkisfarben lodernde Rauchsäulen aus dem Dunst stiegen und langsam schärfere Konturen gewannen.
    Der Eindruck der in der Sonne geschmolzenen und im Erkalten langsam Form annehmenden Stadt, die zunehmende Zahl der Schiffe, die bald, je näher man kam, zu einem Wald hochgestellter Ruder und Masten wurden, und der bohrende Zahnschmerz steigerten sich gegenseitig und gruben sich, einander intensivierend, so tief in sein Bewußtsein, daß er lautlos, sich die Wange haltend, flüsterte: Ich bin vierundzwanzig. Ich treffe in Venedig ein. Ich werde mir, wenn diese Schmerzen nicht aufhören, den
Zahn ausreißen lassen müssen. Ich weiß, daß ich diesen Augenblick nie vergessen werde.
    Sehen Sie, Baron, sagte Respighi drei Monate später in einer Gondel, die die beiden Männer den Canale Grande hinunterstakte, vorbei an der Ca’d’Oro und der Pescheria zum Palazzo Vendramin, Venedig hat seine Aufgabe als Aktivposten in der Welt erfüllt und überlebt. Jetzt hat es keine andere mehr, als sich selbst darzustellen.
     
    Theodor ließ die Hand durch das schiefergraue Wasser gleiten und wartete auf den bernsteinfarbenen Glanz, wenn momentelang die Sonne durch die Wolken brach. Er sah den Kaufmann und Freund von Jacob Cats aufmerksam an, um ihn zum Weitersprechen zu bewegen.
    Was Respighi über die Stadt erzählte, die Theodor vom ersten Tag an, mit schmerzendem Kiefer und einer ganz wie seine Zahnnerven bloßliegenden Empfindsamkeit als ihm gemäß adoptiert hatte, tröstete ihn über seine eigene derzeitige Lage hinweg.
    Empfänge und Kleider, Bälle und Opernaufführungen und das tägliche Leben hatten seine Reisekasse bedenklich geleert. Görtz und der schwedische König tot, Alberoni durch seine militärische Niederlage handlungs- und zahlungsunfähig, hatte er keinen Auftraggeber mehr, der den Namen verdiente, und keine diplomatische Mission in Venedig.
    Wofür ist die Heimat San Marcos also noch gut? fragte Respighi und lieferte den aufnahmewilligen Augen seines Nachbarn die Antwort gleich mit: Um die Schönheit und Dauer und Fragwürdigkeit der menschlichen Existenz zu bezeugen. Es ist ja eine alte Stadt, setzte er hinzu, mit der gleichen genüßlichen Betonung, wie er gesagt haben würde: Es ist ja eine junge Frau.
    Und mit dem Alter, fuhr er fort, ist es so eine Sache. Vernünftige Menschen behaupten immer, der Lebensweg gleiche einer Bahn, die auf Reduktion und Klarheit hinauslaufe,
aber ist es nicht gerade andersherum in Wirklichkeit?
    Er sah Theodor mit hochgezogenen Brauen an und setzte dann entschieden hinzu: Hier in Venedig ist es anders. Und nach einer Pause: Ist es nicht vielmehr so, daß je älter man wird, je älter die Menschheit wird, desto weniger Klarheit herrscht und desto mehr ambiguité . Desto mehr, wie soll ich sagen: chiaroscuro ...
    Theodor blickte auf die dunklen Gestalten, die an den Ufern des Kanals unter den Arkaden standen oder vorüberhuschten und Respighis Worte rauschten leise wie das Wasser bei jedem Stoß des Gondoliere: Gewißheiten... Unterschiede... zwischen Wasser und Licht... Wahrheit oder Traum... Klare Identitäten... Schemen... Das Symbol, das heißt die Maske, tritt zunächst vor das Gesicht und ersetzt es schließlich...
    Masken – das Fest, eines der vielen Feste, die Musik, wie schwere Düfte aus jedem der hohen Räume wehend, die gebauschten Vorhänge, das Dämmerlicht, die Unwirklichkeit der wallenden Gestalten in teuerstem Brokat, dem nur ein unbarmherzig klarer Blick all die Stopfnähte und Stockflecken ansah, ein nächtlich zum Leben erwachter Theaterfundus. Sein nach letzter Pariser Mode gefertigtes Festkleid mit Rüschen und Jabots war zu eindeutig in diesem prachtvoll-schäbigen Maskenreigen, zu wenig ironisch. Alles war verwischt und in der Tiefenschärfe

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