Der König Von Korsika
verärgert über diesen Zusatz.
Aber vorwärts, da ist nichts. Deine Erinnerungen müssen dich glücklich machen, sie sind alles, was man besitzt.
Amélie sah ihn an, als wisse sie ganz genau, wovon er redete, genauer, als er selbst es in diesem Moment wußte. Sein Blick fiel auf die weiße, gedrechselte Wiege, in der schlafend, eine weiße Mütze über dem rötlichbraunen Feenhaar, der Knabe lag, mit beneidenswert glatter Stirn.
Erinnerungen sind Schimären, sagte Amélie.
Aber nein! widersprach ihr Bruder vehement. Es sind Bilder und Empfindungen und Laute und selige Zustände... Der Stein der Weisen, der mir fehlt, ist das Mittel, sie berührbar zu machen, so wie ich dich jetzt berühren kann.
Denkst du viel an die Zeit, die vergeht?
An nichts anderes, hätte Theodor beinahe gesagt, aber die Antwort wäre zu glatt gewesen. Die Zeit, die verging, das war eines der Themen, die er nicht zu umfassen und zu verstehen vermochte, an denen das ausgeworfene Netz seines Verstandes sich aufdröselte oder abglitt. Statt dessen sagte er: Wenn alte Männer sterben, geht ein ungeheurer Reichtum verloren. Bei Kindern ist das nicht so schlimm...
Amélie fauchte ihn an: Und Friedrich, den du liebgewonnen zu haben behauptest? Würdest du nicht dein Leben opfern, wäre er in Gefahr?
Theodor blickte unwillkürlich auf die sorglose Stirn des kleinen Kindes und fragte sich, ob die Liebe, die er zu ihm empfand, im Zweifelsfalle tiefer ginge als sein Selbsterhaltungstrieb. Meine gemalten Bilder eintauschen für leere Leinwände? dachte er, an den mysteriösen Giorgione erinnert.
Für wen sonst als für ihn oder für dich sollte ich das wohl tun? antwortete er nach einer Weile, und sie begannen, über anderes zu sprechen.
Er erzählte von Venedig und den Festen und der Mode, der Oper, den Tänzen, von dem, wovon er meinte, es interessiere eine Frau mehr als Politik und Kriege, und beobachtete zunächst befremdet, dann aber mit wachsender Bewunderung das gleichmütige, wache, nicht leicht zu beeindruckende Interesse seiner Schwester. Sie zu entflammen, sie dazu zu bringen, mir nichts, dir nichts ihre Meinungen und Überzeugungen gegen andere eintauschen zu wollen, ihr das Gefühl zu vermitteln, anderswo sei alles schöner oder wichtiger und dorthin müsse man nun auf der Stelle reisen, war unmöglich.
Wie schon als Kind besaß sie eine gewisse Indolenz, etwas ruhig Duldendes, und wenn er vor dem anbrandenden, Farbe und Form verändernden Meer des Lebens eine Möwe war, darüber hinweggleitend, vom Wind getragen und gezaust, von Zeit zu Zeit wie ein Pfeil in die Fluten tauchend und sogleich, mit oder ohne Beute, wieder emporflatternd, dann war sie – ein ungalanter Vergleich, den er nicht laut aussprach – die Kaimauer. An ihr zerschellte die Brandung, unbeeindruckt bot sie der Wut wie der Verführung des Elements die Stirn, und hinter ihr war Ruhe und Schutz. Im Lee Amélies zu leben, wie der kleine Friedrich, das mußte Friede und Glück bedeuten.
Dennoch, als die Truhen geöffnet wurden und Amélie das mit Gold- und Silberfäden durchwirkte, mit wie Pfauenaugen changierenden Rhomben bestickte Atlaskleid aus Venedig hervorzog und es an ausgestreckten Armen hochhielt,
wobei ihr Blick von unten nach oben wanderte und sie das Kinn hob, ging eine Veränderung mit ihr vor, eine Verjüngung. Die sanften Nebel über den Augen zerrissen, Sonnenstrahlen reflektierten sich in der Iris, ihre Zungenspitze schnalzte rosig im Mundwinkel, die Finger, an die Handhabung von Stickrahmen und Gebetbuch gewöhnt, zupften und flatterten, spielten mit der Luft wie Amselschwänze, eine mädchenhaft ruckende und zuckende Beweglichkeit lockerte das starre Hals-Schulter-Trapez, die mageren Schultern gingen auf und ab, und in der schattigen Vertiefung direkt über dem linken Schlüsselbein pochte unter der Haut eine Ader.
Amélie zog das Kleinod mit beiden Händen an die Brust und drehte sich einmal um die eigene Achse, selbstvergessen betört und beschwingt vom Gefühl des seidenweichen Stoffs auf ihrer Haut, und das Kleid schwang wie eine Tänzerin um sie herum.
Theodor sah zufrieden zu: Mehr noch als zu hören, sie sei glücklich, benötigte er den augenfälligen Beweis, daß sie es nach wie vor tatsächlich zu sein vermochte.
Als sie durch den Park gingen, Hand in Hand, spielten sie wieder – aber nur er wußte das, oder ging die innere Übereinstimmung so weit, daß auch sie wortlos mitspielte und sich verdoppelte? – Königskinder, und er
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