Der König Von Korsika
zügelte seine Lust, die gleichen Worte und Zärtlichkeiten mit ihr zu tauschen wie früher. Trévoux war dabei eine blasse Trompel’Oeuil-Figur auf der Schwelle zwischen Sein und Schein, seine Monologe über Glauben und Gott tönten wie entfernte Kirchenglocken durch die durchlässige Zeit.
Der kleine Friedrich fügte sich ganz natürlich in Theodors Inszenierung, denn er lebte vollständig und innig in einer Welt des Spiels, deren Realität beliebig viele Ein- und Ausfallswinkel besaß. Er legte den drolligen, beinahe religiösen Ernst wohlerzogener, körperlich ihrer Mutter zwangsentwöhnter Kinder an den Tag, bei denen die abgeschaute
Etikette der Höflichkeit den eingeborenen Spieltrieb mit einer gewissen gravitätischen Konzentration adelt. Auch während sie miteinander um die Bäume schlichen oder durchs hohe Gras krochen, blieb die feine Membran einer rührenden Förmlichkeit zwischen ihnen bestehen, denn selbst mit erhitztem Kopf, roten Backen und zerzaustem Feenhaar nannte der Wicht Theodor stets » Monsieur mon Oncle «, und der siezte ihn ebenfalls und sprach ihn mit »Mon petit bonhomme« an.
Theodor verwandelte sich sitzend in den Hafen von Rhodos, seine gespreizten Beine die Kaimauern, sein aufrechter Oberkörper der Koloß, und das windgewellte Gras glättete sich zum Ozean, durch den Friedrich, Galeere und Kapitän Demetrios zugleich, pflügte, um triumphale Einfahrt zu halten. Auf allen vieren formte Theodor sich zu einem Pferd, nein, zu Cheiron, einem Zentauren, verbesserte er. Qu’est-ce que c’est, Monsieur mon Oncle? fragte der kleine Friedrich mißtrauisch und ritt dann auf ihm, führte ihn, und als er begann, mit ihm zu ringen, spürte Theodor, ohne daß es vieler Worte bedurft hätte, daß unterderhand eine neue Wandlung mit ihm vorgegangen war, zum Bär, zum Berg, zur Burg.
Amélie auf der Decke, die ihnen nachsichtig zusah, als müsse sie gleich auf zwei Kinder achtgeben, und Larbi, ein flötender Pan, der von einem Fuß auf den andern im Kreis herumhüpfte, wurden zu Riesen, zu Bäumen, zu Felsen, zu Gebirgen; zu schlafenden Löwen, zu Sphinx und Pyramide oder einfach unsichtbar. Auch die Größenverhältnisse änderten sich ständig, und waren sie eben noch in der Immensität der Natur verlorene Menschenkinder, so ragten sie nun als titanische, nur aus Himmelsaugen bestehende Götter über einen Kontinent, der nicht größer war als Theodors Hand, ein winziges Stückchen sandiger Erde mit Grashalmen, eine Welt vor der Geburt des Menschen, und erschreckende Fabeltiere, Ameisen, Käfer und Schnecken,
durchquerten auf der Suche nach Futtergründen die von Theodors Unterarm verschattete sonnenlose Steppe.
Nach Einbruch der Dunkelheit wurde das venezianische Puppentheater aufgebaut, und Amélie musizierte mit Theodors Diener, während er selbst für die großen, dunkelglänzenden Augen seines Neffen spielte, dessen Vater still, die Bibel in der Hand, am Kamin saß und zu ihnen herüberblickte.
Am folgenden Abend führte Amélie ihr neues Kleid in einer Lyoner Gesellschaft aus, und als Theodor auf der nächtlichen Heimfahrt von seinem Gastgeber erfuhr, dieser müsse am nächsten Tag nach Paris und an den Hof abreisen, erklärte er kurzerhand, er werde ihn begleiten.
Wenn sie wenigstens etwas gesagt hätte! Sie hätte ihn ja nur zu bitten oder ihm Vorwürfe zu machen brauchen, statt dessen das mißmutige Schweigen, dieser wie Säure sich in ihre Züge fressende Ausdruck stummer Enttäuschung, die einen Schleier über das Glück des letzten Abends legten, auch wenn er am Morgen schon wieder verweht schien, so daß der Abschied in offenbarer Liebe und Zärtlichkeit vonstatten ging. Hätte er ein erlösendes Wort der Erklärung aussprechen müssen? Aber es war zu kompliziert, diese Entscheidung zur Abreise erklären zu wollen, die wie alle seine Entscheidungen schon ausgesprochen war, bevor er sich noch bewußt zu ihr entschlossen, ja, von der er gleichsam nichts geahnt hatte, bevor er sie sich nicht aussprechen hörte. Kopfschüttelnd, dem lesenden Grafen gegenüber in der Kutsche, dachte Theodor: Ich habe nie Gründe, etwas zu tun, immer nur hinterher Rechtfertigungen.
Da war die Notwendigkeit, endlich nach Paris zu kommen, um Ripperdas Auftrag auszuführen, da war die günstige Gelegenheit, durch Trévoux wieder gnädig bei Hofe aufgenommen zu werden, wo er sich durch seinen Treuebruch, erst für die Schweden, dann für die Spanier zu arbeiten, vermutlich einige Gunst verscherzt hatte.
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