Der König Von Korsika
Aber der
Hauptgrund war ein anderer: Die Stunden und Tage mit Schwester und Neffe, ja sogar mit dem Grafen selbst, waren so harmonisch verlaufen, daß jede Verlängerung des Aufenthalts nur unweigerlich ein Abfallen bedeuten konnte. Ein Erschlaffen der Glücksspannung, die Theodor, so kam es ihm jetzt vor, drei Tage lang für alle Anwesenden wie ein gestrafftes Seil in perfekter Linie hochgehalten hatte. Aber nun wurde ihm der Arm lahm, und er mußte ein Ende setzen.
So wie du alles beendest und es in Erinnerung verwandelst, bevor du wirklich etwas über die Menschen und Dinge in ihrem Wandel erfährst, dachte er, in Paris angekommen. Es war seltsam und traurig, wie die Menschen Episoden blieben in seinem Leben und verschwanden, bevor sie wirklich Realität gewannen. Schmerzhaft, zu denken, dachte er vage lächelnd, daß es andersherum vermutlich ebenso funktioniert. Wobei es ihm, war er ehrlich zu sich selbst, wichtiger schien, ein unauslöschliches Mal im Gedächtnis der anderen zu sein, als selbst zu genau und eindringlich an deren Leben teilzuhaben. Nebst Verblüffung war es denn auch eine seltsame Art von Freude gewesen, die er angesichts von Amélies Schmollerei empfunden hatte.
Aber wer war sie, und was dachte sie, wenn sie nicht an ihn dachte? Amélies zusammengepreßte, wie verschnürte Lippen an jenem Abend vor dem Schlafengehen, Amélies helle, das Sonnenlicht fangende Augen, als sie, die Hände auf dem Rücken gefaltet, versucht hatte, eine im blauschwarzen Himmel stehende Lerche zu entdecken. Ihr schräg geneigter Kopf, wenn sie auf den mit dem Kinderfräulein spielenden Friedrich hinabblickte. Ihre sehr gerade Gestalt wenn sie in die Kutsche stieg und die rechte Hand ausstreckte, ein wenig aufwärts, am Handgelenk eingeknickt, um sie Trévoux zu reichen, der ihr in den Wagen half. Ihre ihn ruhig musternden Augen. Ihr seltenes perlendes
Lachen. Was erwartete sie vom Leben? Im Gegensatz zu ihm, Theodor, war sie nie krank gewesen, er hatte sie nie krank daliegen sehen, nichts tun, träumen.
Trévoux führte ihn wieder bei Hofe ein, wo sich seit dem Umzug nach Paris alles verändert hatte. Einmal fuhr Theodor hinaus nach Versailles, keiner der Springbrunnen funktionierte mehr, über dem Park lag bleierne Stille, in der das Gesirr der Stechmücken so laut war, daß ihm die Ohren davon schmerzten.
Diskret und zuverlässig wie immer, erledigte Theodor Ripperdas Mission, erstattete schriftlich und nach dem Vigenère’schen System verschlüsselt Bericht, sandte das Schlüsselwort separat per Boten nach Madrid, notierte Beobachtungen über die französische Politik, wurde vom Regenten für den Erfolg seiner ersten Reise belobigt – daß Görtz daraufhin exekutiert worden war, konnte man schwerlich ihm anlasten -, erhielt neue, kleinere Aufträge, das Aushorchen eines ausländischen Diplomaten hier, eine ins Reich zu verbringende vertrauliche Depesche da, man trug die Bitte an ihn heran, bei seiner nächsten Rückkehr nach Spanien Erkundigungen über die dortigen Pläne anzustellen, und so kam nach und nach ein neuer und äußerst praktischer Rhythmus in seine schattenhafte Arbeit, die ihn in den nächsten Jahren kreuz und quer über den Kontinent treiben sollte. Es war wenig Weltfähiges darunter, obgleich man das oft nicht auf der Stelle merkte, manches banal Anmutende stellte sich erst im Rückblick als der Keim von etwas Bedeutsamem heraus, im allgemeinen aber ging es weniger um Krieg und Frieden als um den alltäglichen diplomatischen Geheimnis- und Intrigenhandel, bei dem es galt, gut zu reden, ohne zuviel zu sagen, Vertrauen zu erwecken, Diskretion zu üben oder gezielte Indiskretionen zu streuen, und der, wie Theodor einmal scherzhaft einem Engländer anvertraute, ihn mit der Zeit die Physiognomie
eines Windhunds annehmen ließ: ein stromlinienförmiger Kopf, um zwischen allen Hindernissen hindurchzuschlüpfen, und ein leichter Höcker oder Buckel, denn man war gezwungen, ständig den Kopf tief zu halten, sei es, um nicht aufzufallen durch seinen wachen Blick, eine Spur nicht zu verlieren oder immerzu a priori zu dienern, vor Herren und Gegnern, Auftraggebern und Auszuhorchenden, Hoheiten und Nichtswürdigen.
Theodors Aufenthalt in Paris fiel mit dem Skandal der zusammenbrechenden Law’schen Bank zusammen, und als er in der Rue Quincampoix seine Papiere in Geld umtauschen wollte, um ein Haus in St. Mandé zu kaufen, kam er nicht durch die schreiende, fuchtelnde Menge hindurch. Auch wenn
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