Der König von Luxor
Geschichte, Mr. Carter!«
Nachdem sich Lady Collingham ihm so ohne Vorbehalte offenbart hatte, waren seine Bedenken verflogen. Die Frau tat ihm leid. Trotz aller Unterschiede ihrer Vergangenheit fand Howard sogar eine Gemeinsamkeit. Hielt sich nicht die Lady aus demselben Grund in Ägypten auf wie er – um zu vergessen?
Also begann Carter sein Leben in Swaffham zu beschreiben und seine Liebe zu Sarah Jones, an die sie ihn erinnerte. Und als er vom Abschied auf dem Bahnhof erzählte, der immerhin beinahe drei Jahre zurücklag, da blickte Carter verschämt in die Wipfel der Palmen, denn die Lady sollte nicht sehen, daß er mit den Tränen kämpfte.
»Sie müssen sie sehr geliebt haben«, meinte Lady Collingham, nachdem Howard geendet hatte.
Carter lächelte bitter: »Es ist vielleicht eine Dummheit, aber ich liebe sie noch immer – auch wenn sie einen anderen geheiratet hat.«
»Irgendwie beneide ich Sie, Mr. Carter. Denn hinter Ihrem Unglücklichsein verbergen sich tiefe Gefühle. Wo Gefühle sind, ist auch viel Leid. Aber Leid währt nicht immer, es wandelt sich irgendwann zum Lachen. Ich hingegen mit meinem verkümmerten Gefühlsleben…«
Howard hatte den Eindruck, als pirschte sich die schöne Lady an ihn heran, mitleidheischend oder indem sie seine Gefühle aufwühlte. Nicht daß es ihm unangenehm gewesen wäre – er wunderte sich nur, daß Lady Collingham ausgerechnet ihm ihr Herz ausschüttete. Gab es nicht stattlichere Männer, die ihr den Hof machten, Männer von vornehmer Abstammung und hohem Ansehen?
Hätte man ihm vor ein paar Tagen die Frage gestellt, ob er sich eine andere Frau als Sarah Jones in seinem Leben vorstellen könnte, er hätte diese Möglichkeit empört zurückgewiesen. Jetzt warf er seinem Gegenüber einen fragenden Blick zu: Könnte sie es vielleicht sein?
Als erwachte er aus einem unzüchtigen Traum, der den Bogen der Realität weit überspannte, schreckte Carter hoch. Er sprang auf und machte Anstalten, sich zu verabschieden. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht gelangweilt«, bemerkte er geflissentlich, »gestatten Sie mir, daß ich mich zurückziehe.«
»Und Sie haben heute keine Zeit, mich auf meiner Morgenpromenade zu begleiten?«
»Bedauere, nein, Mylady. Ich habe unerwartet eine Anstellung erhalten, ich werde mit Dr. Naville den Tempel von Der-el-Bahari ausgraben. Vielleicht ein andermal. Bleiben Sie noch länger?«
»Sollte ich das?« Lady Collingham reichte Carter die Hand und hielt die seine länger fest, als es für einen flüchtigen Abschied angemessen war.
Howard fühlte, wie er errötete. Aber dann nahm er all seinen Mut zusammen und antwortete: »Ich würde Sie gerne wiedersehen, Lady Elizabeth.«
Sie sah zu ihm auf, und Howard kam es vor, als blickte er in Sarahs Augen – auf seltsame Weise fühlte er sich zu dieser Frau hingezogen.
K APITEL 16
Der monotone Singsang der Arbeiter schallte durch das Felsental von Der-el-Bahari und tötete den Europäern den letzten Nerv. Er begann morgens um sechs Uhr und endete erst gegen Mittag, wenn die Arbeiten eingestellt wurden. Naville behauptete, die Arbeit ginge besser vonstatten, wenn die Fellachen ihre Gesänge anstimmten. Dann schwangen über vierhundert Männer in einer endlosen Menschenkette unzählige flache, mit Schutt gefüllte Weidenkörbe von der oberen Terrasse des Hatschepsut-Tempels ins Tal und leerten sie in die rostigbraunen Loren der kleinen Wüstenbahn. Naville hatte die schmalen Geleise bis zum Dorf legen lassen, und unter den Arbeitern galt es als Auszeichnung, Lokomotive zu spielen.
Trotz gewisser Eigenheiten des Ausgräbers – dazu gehörte das gemeinsame Morgen- und Abendgebet wie in der Schule – verstand sich Howard Carter mit Naville immer besser. Allein auf sich gestellt, kam er seiner Aufgabe nach, die wichtigsten Reliefs und Wandmalereien zu kopieren. Anders als sein verunglückter Vorgänger begnügte sich Howard jedoch nicht damit, die Vorbilder im Maßstab 1:1 zu übertragen, sondern schuf Abbildungen in gängigeren Formaten und aquarellierte diese mit Farben. Das Ergebnis versetzte Naville in Begeisterung.
Daneben fand Howard noch Zeit, Naville bei den Grabungen auf die Finger zu schauen. Der unterschied sich von Flinders Petrie, seinem ersten Lehrmeister, nicht nur in Wesen und Charakter, auch seine Arbeitsweise war eine ganz andere. Petrie hatte es immer als seine Aufgabe betrachtet, der Erde neue Geheimnisse zu entreißen. Naville hingegen gab sich mit dem Entdecken
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