Der König von Luxor
milchige Grau von Himmel und Erde schmolz in der Ferne nahtlos zusammen. Mochte Swaffham inmitten des Breckland zur Sommerzeit noch einen gewissen Zauber verbreiten mit seinen alten Backsteinhäusern, an denen struppiges Efeu rankte, so machte sich nun in den einsamen Gassen, durch die ein eisiger Nordwind pfiff, Trostlosigkeit breit. In den Gleichmut seiner Bewohner mischte sich einsame Selbstbetrachtung, und wie überall in England versuchte man, diesen mißlichen Zustand, der Jahr für Jahr wiederkehrte, im Alkohol zu ertränken. Niemand regte sich auf, wenn schon zur Mittagszeit wankende Gestalten auf den Gassen gegen die Schwerkraft kämpften. Das ganze Leben war ein einziger Kampf gegen die Schwerkraft.
Gegen drei, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, sah man Charles Chambers mit unsicherem Schritt den Marktplatz überqueren, von wo er den Weg zur Dame-School nahm.Sein weiter, schwarzer Mantel und der breitkrempige Hut verliehen ihm das Aussehen eines bösen Gesellen, mit dem man besser nichts zu tun haben will.
Vor dem Eingang zur Dame-School zog Chambers wie ein Zauberer unter dem Umhang einen Blumenstrauß hervor, brachte mit kurzen, hastigen Bewegungen den Sitz seiner Kleidung in Ordnung und betätigte den Glockenstrang, der über ein außen an der Mauer angebrachtes Winkeleisen in das Innere führte.
In einem Fenster des Treppenhauses erschien Sarahs Kopf. Als sie den unerwarteten Besucher erkannte, rief sie erstaunt: »Ach Sie sind es, Chambers!«
Der hielt Sarah Jones den Blumenstrauß entgegen, ohne ein Wort zu verlieren.
Zwischen ihr und Charles war eigentlich alles geklärt, jedenfalls vertrat Sarah diese Ansicht. Seit ihrer letzten Aussprache waren sie sich ein paarmal begegnet, aber mehr als unverbindliche Worte hatten sie nicht gewechselt. Daß er sie dabei mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte, von unten herauf angesehen hatte, so als führte er etwas im Schilde, als wagte er jedoch nicht, sich zu erklären, dem hatte Sarah wenig Bedeutung beigemessen, zumal sich dieser Vorgang inzwischen mehrmals wiederholt hatte.
Als er ihr nun, kaum hatte sie die Türe hinter dem ungebetenen Gast geschlossen, die Blumen überreichte, die in der Kälte Schaden genommen hatten und die Köpfe hängen ließen, als wären sie geprügelt worden, da befiel sie eine plötzlich Angst vor diesem Mann. Angesichts der Tatsache, daß sie Chambers vor nicht allzulanger Zeit als Freund betrachtet und um Rat gefragt hatte, kam ihr sein Besuch seltsam vor, und sie konnte ihn sich überhaupt nicht erklären.
Charles Chambers begnügte sich mit einer knappen Begrüßung. Ein paar Augenblicke standen sie sich ratlos schweigend gegenüber, und Sarah sah sich genötigt, Charles zu einer Tasse Tee einzuladen.
In der Düsterkeit des Winters barg das alte Schulhaus seine eigenen Geheimnisse, doch Sarah hatte noch nie Furcht empfunden, wenn sie die langen Abende allein verbrachte. Jetzt aber, da sie auf dem Weg zu ihrer Wohnung im Obergeschoß vorausging, lauschte sie auf jeden von Chambers’ Schritten. Oben angelangt, versuchte sie, ihr Unbehagen zu verdrängen. Es gab wirklich keinen Grund.
Obwohl Sarah bemüht war, ein Gespräch in Gang zu bringen, zog sich die Zeit endlos hin, und allmählich wurde ihr klar, daß Charles ein Problem mit sich herumschleppte, über das er nicht zu sprechen wagte, und dieses Problem war sie.
»Warum sind Sie gekommen, Charles?« fragte sie plötzlich. »Sie haben doch etwas? Hängt es mit meiner Absage zusammen?«
Chambers wandte den Blick zur Seite. Dabei machte er einen erbärmlichen Eindruck. Howard war nur halb so alt wie Charles, aber Sarah konnte sich nicht erinnern, ihn jemals in einem so jämmerlichen Zustand gesehen zu haben.
»Ja«, antwortete Chambers unerwartet, »Ihre Absage hat mich schwer getroffen. Seither bin ich ein anderer geworden. Manchmal kenne ich mich selbst nicht mehr. Und daran sind Sie schuld, Miss Jones!« Chambers redete mit erhobener Stimme. Plötzlich sah er sie zum ersten Mal an.
»Ich?« Sarah legte ihre rechte Hand auf die Brust. »Charles, Sie können mir doch nicht vorwerfen, daß ich Sie nicht heiraten will. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß Sie mir ein liebenswerter Freund sind, aber mehr nicht! Muß ich deshalb ein schlechtes Gewissen haben?«
Es schien, als habe Chambers Sarahs Worte überhaupt nicht gehört, denn er fuhr mit aufgeregter Stimme fort: »Sarah, ich habe in den letzten Wochen alle Qualen eines liebenden Mannes durchlitten,
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